Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
noch ein paar Dutzend von deiner Sorte frieren müssen. Und wenn sich die öffentliche Kasse beklagt, dreht sie mir den Geldhahn ab, und dann gute Nacht, Sleep-In.“
„Das verstehe ich natürlich.“
„Sei nicht so zynisch. Was ist los mit dir? Du siehst nicht aus wie der Prototyp einer Magersüchtigen. Wenn es jemandem wie dir den Appetit verdirbt, muss schon was dahinter stecken. Spuck's aus! Dann passt auch wieder was zu essen rein.“
Gegen ihren Willen zuckten Leas Mundwinkel. Ein bisschen ansteckend war Frau Tönges' Tatkraft ja doch. Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihre Kleider und warf zuletzt den Mantel über ihre Schultern. „Also geht es heute ans Abschiednehmen, ja? Gut, wenn wir uns ohnehin nicht wiedersehen, dann begleiten Sie mich doch ein Stück auf meinem Weg durch die letzten sieben Tage.“
„Bin ganz Ohr, Kleines.“
„Ich bin nicht oft rausgegangen. Nicht weil ich Angst hatte, sondern weil ich nachdenken muss. Immer noch. Ich kann es Ihnen nicht konkreter sagen, aber was immer ich tun oder lassen möchte, stets habe ich das Gefühl, dass es in einer Katastrophe enden wird.“
„Das klingt ja, als ginge es um Leben und Tod.“
„Wenn der Tod bloß das Schlimmste wäre“, seufzte Lea, räusperte sich schnell und fuhr fort. „Wie auch immer, trotzdem bin ich jeden Tag einmal über diese Schwelle gegangen. Auch wenn es mich eine wahnsinnige Überwindung gekostet hat. Oder vielleicht gerade deswegen. Ich spüre, dass ich mich einmummeln will, eingraben, verstecken, unsichtbar machen, was auch immer. Weil alles, was ich tue oder lasse, zu Leid und Tod führen muss. Verstehen Sie, wie sehr es mich ekelt vor dieser Welt, die plötzlich so kalt und dunkel und einsam geworden ist und die mir keine Wahl lässt, wie ich mich richtig verhalten könnte?“
„Ja, ich denke, das verstehe ich.“
„Ich bin da hinausgegangen, Frau Tönges. Und wissen Sie, was ich als Erstes erlebt habe? Direkt vor meinen Augen sticht sich eine total abgemagerte Frau eine Spritze in den Arm.“
„Sie ist ein Mensch wie du.“
„Ich weiß. Und Sie glauben gar nicht, wie sehr ich es zu schätzen weiß, wenn ich Menschen begegne wie mir, aus Fleisch und Blut und am helllichten Tag. Aber sie ... sie war schwanger, man hat unter ihren Rippen deutlich die Kugel gesehen. Ich habe gerade ein paar grundsätzliche Probleme mit der Welt, und die werden nicht einfacher, wenn sie sich von ihrer hässlichsten Seite zeigt.“
Frau Tönges zuckte die Schultern, das unerschütterliche Lächeln immer noch auf ihrem Gesicht. „Das Bahnhofsviertel ist nun einmal nicht die feinste Gegend. Für ein Grundstück im Westend haben unsere Spendengelder leider nicht gereicht. Kommst du aus Kleinkleckersdorf, dass du noch nie eine Abhängige gesehen hast? Dann kann ich nur sagen, willkommen in der Realität!“
„Ha! Realität? Sie wissen ja gar nicht, was Realität ist! Sie kämen nicht mal im Traum darauf, was Realität ist! Egal, wie Sie sich die Realität vorstellen, glauben Sie mir, sie ist schlimmer! Es gibt keinen Himmel, keine Erlösung! Aber die Hölle, die gibt es, und die Teufel leben in einem herrschaftlichen Haus in Prag und bringen Unglück über die Familien der Menschen!“
Lea wischte sich eine Träne der Wut aus dem Augenwinkel, bevor sie fortfuhr. „Es war ja noch nicht alles. Es war noch nicht einmal der Anfang. Keine zwei Minuten später wurde ich gefragt, ob ich tanzen kann. Und ob ich einen Job suche. Der Kerl war so ... ekelhaft, widerlich. Er wollte mir an die Brust fassen. Ich bin weggelaufen.
Erst am nächsten Tag ging ich wieder ins Freie. Ich wollte es, ich wollte mir die Luft und die Sonne nicht verbieten lassen, nicht von solchen Sackgesichtern und nicht von der Pol- ... von anderen, die hinter mir her sein könnten. Aber es dauerte wieder nicht lange.
Diesmal war es eine Prügelei, und ich war zu sehr in Gedanken versunken, um genug Abstand zu halten. Ehe ich wusste, was passierte, schlug mich einer aus ganz heiterem Himmel in die Magengrube. Dann droschen sie wieder aufeinander los. Ich fiel auf die Knie und erbrach alles, was ich in den letzten Tagen gegessen und erlebt hatte.
Seither esse ich wenig, Frau Tönges, fast nichts. Denn dieser Ekel hat mich nicht mehr verlassen. Ich bin jeden Tag nach draußen gegangen, und jeden Tag ist etwas passiert. Diese Welt ist gegen mich. Ich will mich nicht in diese Rolle fügen, aber sagen Sie doch selbst, was soll ich tun!? Was soll ich machen,
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