Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
Verbände und Klammerungen um meinen Kopf. Und als die Verbände wieder weg waren, lächelte ich. Immer. Irgendetwas war nicht richtig zusammengewachsen, ich glaube, es waren die Sehnen. Sie sorgten dafür, dass ich mich mit einem Lächeln erhob und mit einem Lächeln zu Bett ging. Und das tun sie noch heute.“
Lea hielt den Blick gesenkt. „Das tut mir leid.“ Sie kaute verlegen an ihrer Unterlippe. „Ich konnte nicht wissen---“
„Oh, bitte, keine Mitleidsausbrüche“, winkte ihre Gesprächspartnerin lachend ab. „Habe ich nicht gesagt, dass jeder Mensch eine traurige Geschichte erzählen könnte?“
„Hassen Sie diesen Jungen?“
„Ich hasse die Dinge, die er erlebt haben muss, um so zu werden, wie er ist. Ich sehe noch genau dieses Zittern in seinen Augen – hinter den harten Bundeswehr-Klamotten, den Muskeln und diesem herausfordernden Irokesenhaarschnitt ...“
„Er ist tot, wissen Sie.“
„Du kennst ihn?“, fragte sie erstaunt.
„Kannte. Aber ich muss jetzt gehen, Frau Tönges. Das haben Sie selbst gesagt.“
„Hast du deswegen solche Angst vor der Polizei?“
„Ich habe Ihre Gastfreundschaft schon viel zu lange in Anspruch genommen.“
„Geh nur, ich halte dich nicht. Aber denk daran, dass schon ganz andere Kaliber als du versucht haben, sich vor der Polizei zu verstecken. Wenn es nicht klappt, macht es alles nur noch schlimmer, und wenn es klappt, bedeutet es ein Leben im Schatten, immer in der Angst vor Entdeckung.“
„Erst muss ich wissen, wie es weitergeht. Diese Entscheidung kann ich nicht der Polizei überlassen.“
„Was auch immer es ist, Mädchen, ich wünsche dir, dass du und die Deinen da heil rauskommen.“
„Dazu ist es leider schon zu spät.“
„Es ist nie zu spät. Komm zu dir und zeig der Welt, was sie an dir hat! Und denk daran: Ein Tag, an dem du nicht lächelst ...“
Als Lea nach draußen kam und die Luft roch, die heute sogar etwas frischer zu sein schien als der übliche Bahnhofsviertel-Smog, spielte tatsächlich ein Lächeln um ihren Mund. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihr schwarzes Haar und lief festen Schrittes geradeaus. Das Abendrot zauberte pinkfarbene Flammen in die Wolken.
43. Kapitel
Während der Besucher mit der rechten Hand die Klingel betätigte, spielte seine Linke mit zwei kleinen Gegenständen, die er wie Qigong-Kugeln umeinander rollen ließ.
Er sah, wie jemand auf die andere Seite des Türspions trat. „Ja, bitte?“, tönte es blechern aus der schon etwas in die Jahre gekommenen Sprechanlage.
„Guten Abend. Könnte ich mich einen Moment mit Ihnen unterhalten?“
„Dies ist eine Institution für Jugendliche. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber die Dreißig haben Sie doch sicher schon überschritten. Vierunddreißig? Fünfunddreißig?“
„Urteilen Sie nicht zu voreilig. Sie wären überrascht, wenn Sie mein wahres Alter erführen.“
„Suchen Sie einen Angehörigen? Es tut mir leid, wir geben keine Auskünfte über unsere Klienten.“
„Ich wäre höchst erfreut“ – seine Rechte ballte sich zu einer Faust und raste im selben Moment blitzschnell auf die Tür zu, mit einem krachenden Splittern barst das massive Eichenholz, und er packte die lächelnde Frau auf der anderen Seite durch das Loch hindurch am Hals – „wenn Sie in diesem Fall eine Ausnahme machen könnten.“
Julio Palazuelo schleuderte die Frau mehrere Meter weit an die gegenüberliegende Wand, riss die Türklinke aus ihrer Verankerung und stieß die zertrümmerte Eingangstür weit auf.
„Ich suche ein Mädchen namens Lea Leonardt. Sie ist fünfzehneinhalb Jahre alt und hat schwarzes, lockiges Haar.“
Gerlinde Tönges hielt sich den blutenden Mund, als sie sich langsam auf die Knie erhob. „Wir ...“ Sie verschluckte sich an ihrem Blut, hustete dunkelrote Tröpfchen aus und versuchte es noch einmal. „Wir erheben selbst keine Daten unserer anonymen Gäste. Glauben Sie mir, wenn sie sich mit Namen angemeldet hätte, würde ich es Ihnen sagen, wer immer Sie sind. Aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Ich bin die Leiterin, mein Job ist die Verwaltung, ich sitze den ganzen Tag in meinem Büro und sehe kaum, wer hier absteigt ...“
Palazuelo trat vor sie und blickte mit einer heuchlerisch traurigen Miene unter seiner Kapuze hervor. „Sie arme Bürostute. Deshalb konnten Sie auch gar nicht an die Tür kommen, als es klingelte, nicht wahr? Weil Sie ja nur in Ihrem Büro versauern?“
Er beugte sich zu ihr herab und
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