Das Rosie-Projekt
er auch einfach eine Ausnahme.
Umgekehrt denke ich, dass Gene meinen Sexualtrieb für ungewöhnlich niedrig hält. Das stimmt aber nicht – ich bin nur nicht so begabt wie Gene, dies auf gesellschaftlich angemessene Weise zu äußern. Meine gelegentlichen Versuche, Gene zu imitieren, haben bislang außerordentlich wenig Erfolg gezeigt.
Wir setzten uns auf eine Bank, und Gene begann zu erklären.
»Sie ist einfach jemand, den ich kenne«, sagte er.
»Ohne Fragebogen?«
»Ohne Fragebogen.«
Das erklärte das Rauchen. Tatsächlich erklärte es alles. Gene war zu der ineffizienten Praxis zurückgekehrt, weibliche Bekannte als Verabredungspartner zu empfehlen. Mein Gesichtsausdruck musste ihm meine Verärgerung gezeigt haben.
»Mit dem Fragebogen vergeudest du nur deine Zeit«, kommentierte er. »Da kannst du besser hingehen und ihre Ohrläppchen vermessen.«
Sexuelle Anziehung ist Genes Fachgebiet. »Besteht da ein Zusammenhang?«, erkundigte ich mich.
»Menschen mit langen Ohrläppchen neigen dazu, sich Partner mit ebenfalls langen Ohrläppchen zu suchen. Es ist eine bessere Wirkungsvariable als der IQ .«
Das war unfassbar, aber vieles von dem Verhalten, das unsere Vorfahren entwickelten, scheint im Kontext der heutigen Welt unfassbar. Die Evolution ist nicht mehr auf dem Laufenden. Aber Ohrläppchen! Kann es eine irrationalere Grundlage für eine Beziehung geben? Kein Wunder, dass Ehen zerbrechen!
»Und? Hast du Spaß gehabt?«, fragte Gene.
Ich erklärte, seine Frage sei nicht relevant: Mein Ziel bestand darin, eine Ehepartnerin zu finden, und Rosie war offenkundig ungeeignet. Gene war schuld, dass ich einen Abend vergeudet hatte.
»Aber hast du Spaß gehabt?«, wiederholte er.
Erwartete er eine andere Antwort auf dieselbe Frage? Um fair zu bleiben: Ich hatte ihm seine Frage nicht beantwortet – aber das aus gutem Grund. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, über den Abend nachzudenken und eine angemessene Antwort zu finden. Allerdings dachte ich, dass »Spaß« die sehr komplexe Situation allzu stark vereinfachte.
Ich lieferte Gene eine Zusammenfassung der Ereignisse. Als ich vom Abendessen auf dem Balkon erzählte, unterbrach er mich. »Wenn du sie das nächste Mal triffst …«
»Es besteht null Veranlassung, sie noch einmal zu treffen.«
»Wenn du sie das nächste Mal triffst«, wiederholte Gene, »wäre es vermutlich keine gute Idee, das Ehefrauprojekt zu erwähnen. Da sie die Voraussetzungen ja nicht erfüllt.«
Abgesehen von der irrigen Annahme, ich könnte Rosie wiedersehen, schien das ein guter Rat.
In diesem Moment nahm unsere Unterhaltung eine dramatische Wendung, und ich bekam keine Gelegenheit mehr, Gene zu fragen, woher er Rosie kannte. Der Grund für diese Wendung war Genes Sandwich. Er nahm einen Bissen, stieß einen Schmerzenslaut aus und griff nach meiner Wasserflasche.
»Oh, Scheiße! Scheiße! Claudia hat Chilischoten auf mein Sandwich gelegt.«
Es war nicht nachvollziehbar, wie Claudia ein derartiger Fehler hatte unterlaufen können. Doch oberstes Ziel war jetzt, die Schmerzen zu lindern. Chili ist nicht wasserlöslich, also wäre es nicht sinnvoll gewesen, aus meiner Wasserflasche zu trinken. Ich riet Gene, irgendein Öl aufzutreiben. Wir eilten zum japanischen Café zurück und konnten uns daher nicht weiter über Rosie unterhalten. Allerdings hatte ich die wichtigsten Grundinformationen erhalten. Gene hatte eine Frau ohne Bezug zu einem Fragebogen ausgewählt. Ein weiteres Treffen stände in absolutem Kontrast zum logischen Grundprinzip meines Ehefrauprojekts.
Auf der Heimfahrt dachte ich erneut darüber nach. Ich fand drei Gründe, die ein weiteres Treffen mit Rosie notwendig machten.
Gute Versuchsanordnungen beinhalten den Einsatz einer Kontrollgruppe. Es wäre interessant, Rosie als Vergleichsobjekt zu Frauen heranzuziehen, die mittels des Fragebogens als geeignet herausgefiltert wurden.
Der Fragebogen hatte bislang keine passenden Kandidatinnen geliefert. In der Zwischenzeit könnte ich mit Rosie interagieren.
Als Genetiker mit der Möglichkeit, DNA -Analysen durchzuführen, und der nötigen Fachkenntnis, sie zu interpretieren, wäre ich in der Lage, Rosie bei der Suche nach ihrem biologischen Vater zu helfen.
Gründe 1 und 2 waren nicht von Belang. Rosie war klar erkennbar keine passende Lebenspartnerin. Es bestand kein Grund für weitere Interaktionen mit einer so augenfällig ungeeigneten Person. Grund Nummer 3 hingegen verdiente eingehende Betrachtung. Meine
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