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Das rote Band

Das rote Band

Titel: Das rote Band Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dana Graham
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Manon. „Jedes Jahr im Mai darf sie ihre Familie besuchen. Der Winter bringt sie persönlich in ihr Dorf, deshalb kehrt der Frost um diese Zeit für ein paar Tage zurück. Und die junge Frau sagt, der Winter sei ein liebenswerter und warmherziger Mann.“
    Eloïse lachte. „Wenn man das Eis weggekratzt hat.“
    „Aber er ist es auf jeden Fall wert, dass man es tut.“
    Eloïse blickte Manon an. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie noch über den Winter sprachen. „Warum habt Ihr mir diese Sage erzählt, Manon?“
    „Es ist Victorians Lieblingsgeschichte. Und außerdem versteht Ihr nun Euer Kostüm besser.“ Sie schlug das Tuch zurück und hielt Eloïse ein silbernes Kleid entgegen. „Das Gewand des Schneefräuleins. Oder der Winterprinzessin, wie man sie auch nennt.“
     
    Kurz darauf stand Eloïse angezogen vor dem Spiegel und traute ihren Augen nicht: War sie das? Das Kleid aus schimmernder, silberner Seide schmiegte sich eng an Oberkörper und Arme und lief ab der Taille in einen weiten Rock aus. Es war hochgeschlossen, und als einziger Schmuck zierte Victorians Muschelkette ihr Dekolleté. Ihre kurzen Haare wurden von einem Schleier aus Spitze verborgen, der durch eine Tiara auf ihrem Kopf festgesteckt war. Um die Schultern lag ein weißes Tuch aus zartem, mit glitzernden Steinen durchwirkten Stoff. Manon hatte ihr die Hände gepflegt und sie geschminkt, und Eloïse erkannte sich kaum wieder. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wirklich schön.
    Doch ihr neues Selbstbewusstsein zerfloss, als sie wenig später im hell erleuchteten Festsaal des Schlosses stand. Sie hatte alleine eintreten müssen, denn der Tanz hatte bereits begonnen, und Victorian war schon anwesend. Das hatte jedenfalls Manon behauptet, kurz bevor sie sie sanft, aber bestimmt in den Saal geschoben hatte. Leider hatte die Amme nicht erwähnt, welches Kostüm Victorian trug. Stickige Luft schlug Eloïse entgegen, und fröhliche Musik drang an ihr Ohr, doch sie nahm es kaum war, so beschäftigt war sie, die Kostüme der anderen Gäste zu betrachten und herauszufinden, ob Victorian darunter steckte. Die meisten Anwesenden hatten sich als Tiere verkleidet: Bären, Hirsche und Wölfe sah sie gleich mehrere. Die Damen waren als Schmetterlinge oder Vögel kostümiert, mit bunten Federn in den Haaren und schriller Schminke im Gesicht. Einige Besucher hatte die antike Welt zum Vorbild genommen und sich wie Götter oder Tempelpriesterinnen gewandet. Ein Lord, der wohl Bacchus, den Gott des Weines, darstellen wollte, verbeugte sich vor Eloïse.
    „Gewährt das Schneefräulein mir die Ehre eines Tanzes?“, fragte er mit ausgesuchter Höflichkeit.
    „Nein“, knurrte es plötzlich hinter Eloïse, „die Lady tanzt nicht. Und wenn doch, dann ausschließlich mit mir!“
    „Selbstverständlich, Euer Gnaden.“ Bacchus nickte ergeben und entfernte sich ohne Widerspruch.
    „Victorian!“, Eloïse drehte sich zu ihm um, „das war nun wirklich sehr unhöf ...“ Der Satz blieb unvollendet, denn sein Aussehen verschlug ihr die Sprache.
    Seine schulterlangen Haare fielen offen auf seinen Rücken und wurden von einem dunklen Kopftuch zurückgehalten. Statt des glatt rasierten Gesichts zierten Bartstoppeln sein Kinn, und zusammen mit der Narbe aus dem Kampf mit den Söldnern wirkte er äußerst verwegen. Er trug das mit dem Tintenfleck besudelte Hemd, das bis zur Brust aufgeknöpft war und nicht wie sonst ordentlich im Hosenbund steckte, sondern lässig darüber hing. Ein breiter Waffengürtel saß schräg auf seiner Hüfte und war mit Degen und Messern bestückt. An den Fingern beider Hände glitzerten goldene Ringe, und eine Augenklappe vervollständigte das Bild des Furcht einflößenden Piraten.
    „Unfassbar!“ Eloïse lachte. „Schade, dass Raine das nicht sehen kann.“
    Victorian reagierte nicht, sondern stand bewegungslos vor ihr und starrte sie nur an.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.
    „Hat dir schon mal jemand gesagt, wie wunderschön du bist, Eloïse?“, erwiderte er mit rauer Stimme.
    „Freut mich, wenn dir mein Kostüm gefällt.“
    „Nicht das Kostüm, du!“
    Eloïse wurde unsicher unter seinem Blick. „Hast du zu viel Wein getrunken, Victorian? Sollen wir an die frische Luft gehen?“
    „Es wäre äußerst gefährlich, wenn ich jetzt mit dir irgendwo alleine hingehen würde“, murmelte er. Dann schüttelte er den Kopf, und der merkwürdige Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand. „Wie sieht es aus,

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