Das rote Band
zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Danke, das rechne ich dir hoch an.“ Er trat auf sie zu und strich sanft mit dem Daumen an ihrem Gesicht entlang.
Und mit dieser kleinen Geste riss er endgültig alle ihre Wunden wieder auf. Der Schmerz kam mit aller Wucht zurück und mit ihm die tiefen Gefühle, die sie für ihn empfand. Sie wich vor ihm zurück, sodass seine Hand herabfiel. Verdammt, sie liebte Victorian trotz allem noch! Aber das würde sie ihm niemals mehr sagen. „Wann wollen wir nach Coldhill fahren?“, fragte sie, um sich davon abzuhalten, in Tränen auszubrechen.
Eloïse brauchte die gesamte erste Woche, bis sie zu ihrem gewohnten Umgangston mit Victorian zurückfand. Fast war wieder alles so wie früher, nur die Scherze zwischen ihnen waren weniger geworden, und sie achtete nun penibel darauf, ihn nicht mehr zu berühren oder ihm zu nahe zu kommen. Allerdings konnte sie es nicht verhindern, ihn anzusehen, ohne dabei an ihre gemeinsame Nacht zu denken. Eloïse spürte keine Reue, niemanden in Coldhill würde es interessieren, ob sie bei einem Mann gelegen hatte oder nicht. Auch war das Zusammensein mit ihm folgenlos geblieben, wie sie seit ein paar Tagen wusste. Nein, was sie schmerzte, war der Verlust ihrer Hoffnung auf ein Leben an seiner Seite.
Am Sonntagabend stand Eloïse mit den anderen Studenten und Studentinnen im Festsaal und wartete. Victorian war nicht da, obwohl der Earl am Morgen alle um ihre Anwesenheit gebeten hatte. Da der Burgherr keinen Grund für die Versammlung genannt hatte, waren mittlerweile die absurdesten Gerüchte bei den jungen Männern und Frauen im Umlauf.
„Vielleicht besucht der König Greystone?“, sagte Finley und kratzte sich am Kopf.
„Nein“, erwiderte Eloïse, „so etwas Wichtiges hätte der Earl uns sicher gesagt.“
„Oh, da kommen sie“, rief Harper, der aufgrund seiner Größe am besten sah. „Der Earl, Lady Joanna, Ian, Lord Lionsbridge und – Victorian. Oh verdammt!, wer ist diese gutaussehende Lady an Victorians Seite?“
„Du hast recht“, antwortete Raine. „Eine wahre Göttin!“
„Vielleicht seine Schwester?“, schlug Finley vor.
„Victorian hat keine Schwester“, erklärte Eloïse. „Er hat überhaupt keine Geschwister.“ Von den Bemerkungen der anderen neugierig geworden, ging sie einen Schritt nach vorne und blieb wie angewurzelt stehen.
Die junge Frau an Victorians Seite war tatsächlich von unglaublicher Schönheit: tiefblaue Augen, ein perfekt geschwungener Mund und ein zartes Gesicht, welches von goldblonden Locken umrahmt wurde. Dass sie eine wohlgeformte Figur besaß mit den notwendigen Rundungen an den richtigen Stellen, nahm Eloïse nur noch am Rande wahr. In Angesicht dieses engelsgleichen Wesens fühlte sie sich schlagartig noch minderwertiger als üblich.
„Mylords, Myladys, danke für Ihr Kommen“, grüßte Lord Greystone in die Stille, die im Saal als Reaktion auf das Erscheinen der unbekannten Frau eingetreten war. „Ich freue mich sehr, dass mir die Ehre zufällt, Ihnen die Verlobung zwischen Victorian of Walraven und Lady Amira of Bellham bekannt geben zu dürfen.“
Rufe des Erstaunens und Applaus folgten auf seine Worte, doch Eloïse war unfähig zu klatschen. Der Morgen in Walraven war schlimm gewesen, Victorians Rückkehr hatte sie aus der Fassung gebracht, aber gegen das Auftauchen seiner Verlobten war beides nichts. Kälte stieg in ihr auf, und, was um sie herum geschah, nahm sie nur noch wie durch einen Nebel wahr.
„Du wusstest es nicht, oder?“, fragte Raine sie leise.
Eloïse schüttelte stumm den Kopf. Victorian hatte es nicht für nötig befunden, sie über diese unbedeutende Kleinigkeit in Kenntnis zu setzen. Warum hatte er sie um Verzeihung gebeten und sich um ihre Freundschaft bemüht, wenn er sie jetzt erneut demütigte? Eloïse fand keine Antwort. Aber vielleicht war dies auch nur ein weiterer Schachzug eines grausamen Spiels, das Victorian mit ihr trieb.
„Wir müssen hingehen und beiden gratulieren.“ Raine fasste sie am Arm und zog sie zu der Schlange, die sich vor dem Verlobungspaar gebildet hatte. „Alles andere wäre unhöflich.“
Willenlos folgte Eloïse ihm und reihte sich hinter den anderen Studenten ein. Kurz darauf reichte sie Lady Amira die Hand. „Meine herzlichen Glückwünsche zu Eurem Verlöbnis, Mylady“, gelang es ihr zu sagen.
Lady Amira nahm ihre Gratulation mit einem hinreißenden Lächeln entgegen. Dann betrachtete sie Eloïse genauer, und ihr
Weitere Kostenlose Bücher