Das rote Band
schmollte bereits seit gestern früh mit ihm, weil er sie in Gegenwart von Eloïse zurechtgewiesen hatte. Und Eloïse sah ihn aus zusammengekniffenen Augen feindselig an, weil er ihre Pläne, in Coldhill zu bleiben, zunichtegemacht hatte. Er seufzte und sah zum Fenster hinaus. Der Besuch in Coldhill hatte ihn sehr nachdenklich gemacht und auch sehr besorgt. Eloïses Eltern waren freundliche Menschen, und selbst für Korins ablehnendes Verhalten konnte er Verständnis aufbringen, was sein ungutes Gefühl nur verstärkte. Victorian schloss die Augen. Auch die letzte Nacht hatte er wenig geschlafen, weil er grübelnd im Bett gelegen hatte. Er suchte eine Antwort für seine Frage, wie es mit Coldhill weitergehen sollte. Aber die Lösungen, die ihm in den Sinn kamen, gefielen ihm alle nicht. Es ärgerte ihn, doch in dieser Sache kam er alleine nicht weiter. So ungern er um Hilfe bat und damit seine eigene Schwäche zugeben musste, in diesem Fall gab es keine andere Möglichkeit. Er musste sich Rat holen, und zwar von Menschen, denen Eloïses Schicksal genauso wenig gleichgültig war wie ihm selbst.
„Ihr habt um eine Unterredung gebeten, Victorian?“
Victorian sah den Earl of Greystone an und nickte. Zusammen mit Lady Joanna, Ian und Lord Lionsbridge saßen sie am großen Tisch in der Bibliothek von Greystone. Erst vor zwei Stunden waren sie aus Coldhill hier eingetroffen, und weder Eloïse noch Amira ahnten etwas von diesem Gespräch. „Es geht um Coldhill“, erklärte er. „Ich mache mir große Sorgen um das Gut und Eloïses Familie.“ In knappen Worten beschrieb er die ärmlichen Zustände auf dem Hof im Gebirge. „Ich dachte, Eloïse ginge es um etwas mehr Wohlstand, aber in Wahrheit geht es für sie ums Überleben.“ Er bemerkte den entsetzten Blick von Lady Joanna. „Was ich wissen will, ist: Was passiert mit Eloïse und ihrer Familie, wenn sie das Gut nicht mehr halten können?“
„Nach Eurem Bericht zu urteilen, eine durchaus berechtigte Frage“, sagte der Earl und sah zu Lord Lionsbridge hinüber. „Galad?“
„Der Baron of Coldhill, Eloïses Vater, ist ein Lehnsmann des Königs. Wenn die Familie nicht durch eigenes Verschulden, sondern durch äußere Umstände ihre Lebensgrundlage verliert, muss König Theodoric als Lehnsherr seiner Verpflichtung zu Schutz und Treue nachkommen und der Familie helfen“, erklärte Galad. „Es gibt drei mögliche Formen der Unterstützung“, fuhr er fort. „Erstens könnte die Familie neues Land zum Lehen erhalten, beispielsweise ein vakant gewordener Adelssitz. Oder der König bringt die Familie anderswo unter, die Eltern an seinem Hof und die Kinder durch Heirat.“
„Aber Korin hat die Fallsucht“, rief Victorian, „und Eloïse ist durch ihre Vorgeschichte hier …“ Er verstummte. Eloïses Worte über mögliche Ehemänner waren ihm noch zu bewusst.
Der Earl nickte. „Es würden keine Liebesheiraten sein, aber wichtig ist, dass die Geschwister versorgt wären.“
„Eine andere Möglichkeit für Eloïse wäre der Eintritt in ein Kloster“, sagte Galad.
Victorian lachte bitter auf. „Eloïse und ein Schweigegelübde? Nein, das wäre für sie genauso furchtbar wie eine erzwungene Ehe.“
„Aber Eloïse wird keine andere Wahl haben“, erwiderte Joanna sanft. „Und vielleicht findet sich ja ein netter Bräutigam für sie.“
„Nein!“, rief Victorian. „Lieber nehme ich Eloïse mit nach Walraven. Sie kann dort Amiras Hofdame sein.“
„Auf keinen Fall wird Eloïse Euch nach Walraven begleiten, Victorian!“ Joannas Stimme war hart geworden. „Und Ihr wisst auch sehr genau, warum.“
Überrascht sah er sie an, doch bevor er etwas erwidern konnte, setzte Galad seine Ausführungen fort.
„Es gibt noch eine dritte Möglichkeit für die Familie. Der König unterstützt den Hof finanziell, wenn er ihm als Stützpunkt im Parnea-Gebirge wichtig ist. Allerdings wird er das nur tun, wenn Coldhill noch zu retten ist.“
Nun mischte sich Ian zum ersten Mal in das Gespräch ein, der bis dahin schweigend zugehört hatte. „Was ist dein Eindruck, Victorian: Kann Coldhill wieder gewinnbringend bearbeitet werden?“
„Das wird sich zeigen. Korin will mir schreiben, wie sich das neue Saatgut entwickelt. Die Aussaat des Getreides beginnt erst Mitte April wegen der Kälte. Ich wollte gleich nach der Abschlussprüfung wieder nach Coldhill fahren, um Korin, Eloïse und ihrem Vater bei der Feldarbeit zu helfen.“
Ian lächelte. „Hast du denn
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