Das rote Band
ging, würde sie heute Nachmittag die Verlobung mit Ian bekannt geben. Wenn! Letzten Endes war die Entscheidung des Königs völlig ungewiss. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Ängste zu vertreiben und sah sich in der Bibliothek um. Wo blieb eigentlich Victorian? Er wollte doch mit zur Unterredung kommen und im Anschluss Eloïses Fall dem König vortragen. Verunsichert schaute sie zu Jake und Galad hinüber. Galad lächelte sie aufmunternd an, doch das Gesicht ihres Bruders war angespannt. Ob den König die Gerüchte über seine Beziehung zu Galad erreicht hatten? Jake hatte ihr gegenüber das Bankett bei dem Viscount of Adcoque nie mehr erwähnt. Wenn etwas schief gegangen wäre, hätte er ihr es doch gesagt, oder?
Joanna blickte aus dem Fenster, während sie eine Kordel ihres Kleides zwischen den Fingern rollte. Bennett hatte geschrieben, der König treffe am späten Vormittag in Greystone ein. Hoffentlich kam er bald, denn länger hielt sie dieses quälende Warten nicht aus. Ian hatte recht, es musste ein Ende finden! In diesem Moment öffnete sich die Tür der Bibliothek, und Joanna hielt den Atem an. Doch statt des Königs trat Eloïse ein und lief eilig auf sie zu.
„Joanna, Joanna!“, rief die junge Frau. „Victorian ist wieder krank! Das Gleiche wie beim Winterfeuer, nur viel heftiger.“
„Was? Oh nein!“ Joanna sah Eloïse entsetzt an. „Wir müssen sofort ...“
„Du nicht!“ Jake fasste sie am Oberarm. „Erkläre Eloïse, wo sie das passende Heilmittel findet.“
Joanna nickte. „Der Kräutersud steht in einem kleinen blauen Tongefäß auf meinem Schreibtisch, Eloïse. Wie hat Amira auf Victorians Unwohlsein reagiert?“, fragte sie und sah die Studentin verschwörerisch an.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Eloïse und warf ihr einen ebensolchen Blick zu. „Ich habe sie beim Frühstück zum letzten Mal gesehen. Ein Diener brachte mir die Nachricht von Victorian, weil er Amira nicht finden konnte.“
Joannas Miene verfinsterte sich. Was bezweckte Amira mit dieser erneuten Vergiftung? Leider konnte sie sich mit Eloïse nicht weiter beratschlagen, da Jake der jungen Frau mit einem Nicken zu verstehen gab, die Bibliothek zu verlassen.
Doch bevor Eloïse der Aufforderung nachkam, blieb sie vor Ian stehen und fuhr bewundernd mit der Hand an seiner Kleidung entlang. „So herausgeputzt kenne ich dich gar nicht“, stellte sie amüsiert fest. „Äußerst elegant, nur um die Nase etwas blass.“
„Raus, Eloïse!“, knurrte Ian. „Kümmere dich um Victorian, der hat deinen Beistand gerade nötiger als ich.“
Nachdem die Tür der Bibliothek sich hinter Eloïse geschlossen hatte, starrte Joanna auf den Boden. Eloïse, Victorian, Amira – so sehr sie die Sache interessierte, sie musste jetzt in den Hintergrund treten. Das Einzige, was für sie nun zählte, war die Entscheidung des Königs. Die Nervosität ergriff wieder ganz von ihr Besitz, und dass Ian ihre Hand nahm und drückte, bemerkte sie kaum. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen war, vernahm sie Pferdegetrappel, und auf dem Vorplatz der Burg galoppierte eine große Schar bewaffneter Reiter ein: Der König war mit seiner Leibwache in Greystone angekommen. Kurz darauf öffnete sich die Tür der Bibliothek, und Theodoric betrat den Raum, während seine Ritter im Gang Stellung bezogen. Joanna, Ian, Jake und Galad verbeugten sich tief, und der König nickte ihnen kurz zu, bevor er zu dem Lehnstuhl ging, den sie für ihn vor dem Kamin aufgestellt hatten.
Als Joanna sich wieder aufgerichtet hatte, betrachtete sie Theodoric, der inzwischen Platz genommen hatte. Er war ein stattlicher Mann um die vierzig, mit schwarzen Haaren und hellblauen Augen. Sie war dem König, der trotz seines Alters immer noch nicht verheiratet war, vor fünf Jahren das letzte Mal begegnet und hatte ihn als selbstbewussten, aber freundlichen Herrscher kennengelernt, der vor allem jungen Frauen gegenüber äußerst zuvorkommend war. Doch Joanna hatte Galads Warnung nicht vergessen, den König keinesfalls zu unterschätzen, da er dafür berühmt und berüchtigt war, sehr eigensinnige Mittel zur Urteilsfindung zu benutzen. Und tatsächlich war Theodorics Blick stechend geworden, und, als er ihren Bruder nun ansprach, war kein Hauch von Freundlichkeit zu bemerken.
„Jake, ich bin hier, weil der Viscount of Adcoque und eine Menge Zeugen schwerwiegende Anschuldigungen gegen dich vorgebracht haben.“ Theodoric stützte seine Ellenbogen auf die
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