Das rote Band
reden.“
Eloïse ging zu der Ziege zurück, band sie los und brachte sie in den Verschlag. Seufzend schloss sie den Riegel und sah ihn schließlich an. „Was gibt es?“
„Warum hast du mir verschwiegen, dass dein Bruder die Fallsucht hat?“, fragte er streng.
„Damit ich mich noch mehr vor dir schämen muss?“ Sie wischte ihre schmutzigen Finger an dem Stoff ihrer Schürze ab. „Ich habe doch eben deinen angewiderten Blick gesehen, als du entdeckt hast, dass ich die Ziege melke.“
„Das ist nicht wahr“, widersprach Victorian, doch sie ließ seinen Einwand nicht gelten.
„Sieh dich doch um“, rief sie verzweifelt, „und sage mir, dass du es nicht bereust, mitgekommen zu sein!“
Entschieden schüttelte er den Kopf. „Es ist gut, dass ich hier bin und alles sehe.“
„Gut?“ Sie sah ihn spöttisch an. „Damit du dich später daran erinnern und lachen kannst? Oder damit du vor deinem Vater prahlen kannst, eine Frau im Bett gehabt zu haben, die sogar Ziegen melken kann?“
„Eloïse, du vergisst dich!“
„Nein“, erwiderte sie traurig, „du vergisst mich und Coldhill, sobald du Greystone verlässt.“
Victorian spürte ihre Hoffnungslosigkeit und hätte sie am liebsten in seine Arme gezogen. Stattdessen erklärte er mit ernster Stimme: „Wir finden eine Rettung für euren Hof, das verspreche ich dir.“
„Es gibt nur eine Rettung für Coldhill – harte Arbeit.“ Sie griff nach dem Futtereimer. „Und ich fange morgen damit an.“
„Morgen reisen wir ab“, erinnerte er sie.
Trotzig reckte sie ihr Kinn vor. „Ihr fahrt, ich bleibe.“
„Eloïse, sei vernünftig“, verlangte er. „Es sind nur noch zwei Monate in Greystone. Es macht keinen Unterschied, ob du sie hier verbringst oder in der Akademie.“
„Für mich nicht, für meine Familie schon. Sie brauchen meine Hilfe.“
„Aber nicht mitten im Winter!“ Er fuhr sich mit der Hand über die Haare. „Verdammt, Eloïse, du kommst mit uns zurück nach Greystone, weil ich dich ...“
„… sonst vermisse?“ Sie lachte auf. „Werde nicht albern! Die letzten Wochen haben wir uns sowieso nur noch im Unterricht gesehen. Ob wir uns jetzt verabschieden oder im April, wo liegt der Unterschied?“ Sie sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. „Deine Zukunft heißt Amira, meine Coldhill.“
„Habe ich da gerade den Klang meines Namens vernommen?“ Amira betrat den Stall und blickte voll Entsetzen auf Eloïse. „Das sieht man auch nicht alle Tage“, sagte sie abfällig. „Eine adlige Dame beim Ziegenfüttern.“
Victorian warf Amira einen warnenden Blick zu, doch Eloïse hatte ihre Worte gehört. „Ich gehe hinein und ziehe mich um“, erwiderte sie verlegen und zog das Tuch von ihrem Kopf.
Amira lächelte Eloïse an, doch der Ton ihrer Worte war wenig freundlich: „Nur die Kleider zu wechseln, wird gegen diesen bestialischen Gestank nicht helfen. Ihr müsst schon baden, Eloïse, um uns und Euch diesen Stallgeruch zu ersparen.“
In diesem Moment war Victorians Geduld mit den beiden Frauen am Ende. „Amira, sei still!“, befahl er wütend. „Du begleitest mich jetzt ins Haus, sonst riechst du auch bald nach Ziege. Und Eloïse, du suchst deinen Vater und Korin, damit wir beginnen können, weswegen wir hier sind!“, rief er und wies mit dem Finger auf die Tür.
Eloïse und Amira sahen ihn verblüfft an, folgten dann aber widerspruchslos seinen Anordnungen und verließen eilig den Stall.
„Eloïse, ich habe eine Überraschung für dich.“ Während des gemeinsamen Frühstücks am nächsten Morgen stand Lady Coldhill auf und reichte ihrer Tochter ein festliches hellblaues Kleid. „Ich habe es extra für dich genäht für die Abschlussfeier der Akademie im April.“
Eloïse öffnete den Mund, doch ihre Mutter sprach weiter: „Lord Walraven will uns eine Kutsche schicken, damit Vater, Korin und ich ebenfalls am Fest teilnehmen können. Während unserer Abwesenheit, so sagte er, werden Knechte aus Walraven unseren Hof betreuen.“
„Nein!“, rief Eloïse und warf Victorian einen vernichtenden Blick zu. „Ich fahre heute nicht nach Greystone zurück, denn ihr braucht mich hier.“
„Tochter“, Lord Coldhill, der neben ihr saß, legte Eloïse sanft eine Hand auf den Arm. „Bis April kommen wir alleine zurecht. Du gehst zurück in die Akademie und beendest, was du angefangen hast!“
Victorian saß im Pferdeschlitten und betrachtete mit gerunzelter Stirn die beiden jungen Damen ihm gegenüber. Amira
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