Das rote Band
tun!“
„Ach ja? Was denn? Vielleicht einen deiner unzähligen Heiratsanträge annehmen, liebe Schwester? Dein ganzer Plan mit der Akademie war von vorneherein zum Scheitern verurteilt, und du hast dich und unsere ganze Familie zum Gespött von Telamen gemacht!“
Ein Schluchzen erklang, dann hörte Victorian Schritte, die die Treppe hinunter eilten. Nebenan öffnete und schloss sich eine Tür – Korin hatte sein Zimmer betreten. Er ballte die Faust. Am liebsten wäre er hinausgegangen und hätte Korin für seine beleidigenden Worte zu Eloïse zur Rechenschaft gezogen. Aber welches Recht hatte ausgerechnet er dazu? In Walraven hatte er Eloïse weitaus Schlimmeres gesagt und angetan. Langsam ging er zu seinem Stuhl zurück und setzte sich wieder. Angestrengt lauschte er in die Stille, doch im Haus blieb es ruhig. Hoffentlich war Eloïse bei dieser Kälte nicht ins Freie gelaufen!
Nach einer Weile hielt Victorian es nicht mehr aus. Er stand auf, warf sich seinen Umhang über und nahm eine Kerze. Leise öffnete er die Tür und stieg die Treppe hinab. Unten angelangt, sah er sich in der großen Halle um, doch er konnte Eloïse nirgendwo entdecken. Er ging zurück, öffnete die Tür zur Küche und leuchtete hinein. Im schwachen Kerzenschein sah er schließlich die zusammengekauerte Gestalt auf dem Boden vor dem Herd. Er trat zu Eloïse und beugte sich zu ihr hinunter. Sie schlief, und er strich ihr über die Wange, die nass von Tränen war. Victorian zog sich den Umhang von den Schultern und breitete ihn sorgfältig über ihr aus, bevor er die Treppe wieder hinaufstieg.
Mit den Strahlen der aufgehenden Sonne, die in das Zimmer fielen, erwachte Victorian früh am nächsten Morgen. Er hatte nur wenig geschlafen, weil er sich über Korins Anschuldigungen Eloïse gegenüber geärgert hatte. Und er war auf sich selbst wütend, weil er schuld war, dass ein Teil davon der Wahrheit entsprach. Rasch zog er sich an und stieg die Treppe hinunter, fand jedoch die große Halle leer vor. Unschlüssig sah er sich um, dann ging er zur Küche, klopfte an die Tür und trat ein.
Lady Coldhill stand zusammen mit einer alten Frau an einem großen Tisch und buk Brot.
„Tretet ein, Lord Walraven, und setzt Euch“, forderte ihn Eloïses Mutter lächelnd auf und wies auf einen Stuhl, der neben dem Tisch stand.
Kaum hatte Victorian Platz genommen, stellte sie Käse, Schinken und ein frischgebackenes Brot vor ihn. Schweigend aß er sein Frühstück und sah sich um. Die Küche war sauber und aufgeräumt, doch Geschirr und Töpfe waren alt und abgestoßen. Plötzlich entdeckte er auf einer Truhe in einer Ecke seinen Mantel, penibel gefaltet und glatt gestrichen. „Wo ist Eloïse?“, fragte er. „Schläft sie noch?
Lady Coldhill schüttelte den Kopf. „Nein, Mylord, sie ist bereits vor Sonnenaufgang aufgestanden. Sie ist draußen und hilft ihrem Vater und ihrem Bruder. Korin hatte letzte Woche wieder einen Anfall, und es ist viel Arbeit liegengeblieben.“
„Einen Anfall?“
„Ja“, erwiderte sie. „Eloïse hat es Euch doch sicher erzählt: Korin leidet unter Fallsucht, seit er vor knapp drei Jahren schwer vom Pferd gestürzt ist.“ Die Mutter sah zu Boden. „Deshalb konnte er auch nicht nach Greystone gehen.“
Victorian nickte. Eloïse hatte immer nur von einer Krankheit gesprochen, und er hatte sich nie die Mühe gemacht, genauer nachzufragen. Er bedankte sich für das Essen, nahm seinen Umhang und ging nach draußen.
Im Schatten war es beißend kalt, und er zog den Stoff des Umhangs eng um sich. Kleine Wölkchen bildeten sich beim Atmen, und Victorian lief schnell auf den Stall zu, aus dem ein gelegentliches Meckern und Wiehern drang. Eilig trat er ein und sah sich in dem dämmrigen Licht um. Entlang der Wände befanden sich mehrere Verschläge mit Tieren. Im vorderen Bereich standen ein halbes Dutzend Eimer, und an der Wand lehnte eine Mistgabel. Außer einer Magd, die kniend eine Ziege molk, war niemand da. Wo steckte Eloïse? Sein Blick fiel wieder auf die Magd. „Hey, du!“, rief er. „Weißt du, wo Lady Eloïse ist?“
„Sie ist hier“, antwortete die Magd leise, stand auf und drehte sich um.
„Eloïse!“ Überrascht trat er näher. „Ich habe dich wegen des Kopftuchs nicht erkannt.“
Sie senkte den Blick. „Ich bin gleich fertig. Bitte, warte im Haus auf mich, Victorian“, bat sie und stellte den vollen Milcheimer neben die Stalltür.
Er rührte sich nicht vom Fleck. „Nein, ich muss mit dir
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