Das rote Band
seiner Gewohnheit warf er einen Blick in die beiden Truhen. Nur wenige Wäschestücke befanden sich darin. Eloïse musste den größten Teil ihrer Kleidung in Greystone haben, erkannte er überrascht. Auch sonst war ihr Besitz übersichtlich. Zwei Bücher lagen auf einem Beistelltisch neben dem Bett, und keinerlei Bilder oder Wandbehänge schmückten die steinernen Mauern. Neugierig ging er zum Schreibtisch und zog die erste der beiden Schubladen unter der Platte auf. Sie war vollgestopft mit Papier, Zeichnungen, einem Skizzenbuch und etlichen Kohlestiften. Lächelnd schloss er sie wieder und öffnete die zweite Schublade. Auf den ersten Blick schien sie leer zu sein, doch dann entdeckte er weit hinten etwas und zog es hervor. Als er seinen Fund besah, trat ein wehmütiger Ausdruck auf sein Gesicht. Auf seiner Hand lag ein langer, geflochtener Zopf aus dunkelblondem Haar. Er strich vorsichtig darüber, bevor er ihn sorgsam zurücklegte und die Schublade schloss.
Schwere Schritte auf der Treppe ließen Victorian aufhorchen. Er öffnete die Zimmertür und sah auf den Gang hinaus. Eloïse stand mit zwei Wassereimern in der Hand vor Amiras Tür.
„Eloïse, was machst du da?“, fragte er und trat zu ihr in den Flur.
„Amira möchte baden“, erwiderte sie knapp.
„Aber warum bringt nicht ein Diener die schweren …“ Er verstummte, als seine Verlobte die Tür öffnete.
Amira war erst überrascht, Eloïse zu sehen, dann nahm sie die Eimer wahr. „Haben Eure Diener heute frei?“
„Wir haben keine Diener mehr“, erklärte Eloïse mit fester Stimme. „Nur noch eine alte Köchin.“
Victorian ging zu den beiden Frauen. „Amira, unter diesen Umständen solltest du dich auf ein Fußbad beschränken.“ Er nahm Eloïse die Eimer ab. „Oder ich hole das restliche Wasser.“
„Oh, Eloïse hat mir vorhin nicht gesagt, dass ihre Familie sich keine Diener leisten kann“, erwiderte Amira spitz.
Victorian warf Eloïse einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie jedoch ignorierte.
„Ich sage Bescheid, wenn das Abendessen angerichtet ist“, erklärte Eloïse, drehte sich um und lief die Treppe nach unten.
Nach dem Abendessen brachte Victorian Amira nach oben zu ihrem Zimmer. Er wünschte ihr eine gute Nacht und ging in seinen eigenen Raum. Dort trug er den Lehnstuhl vor den Kamin, ließ sich darauf nieder und starrte ins Feuer. Das Abendessen war einfach, aber wohlschmeckend und sättigend gewesen. Der Baron und seine Frau hatten sich interessiert nach Greystone erkundigt, und er und Eloïse hatten ihre vielen Fragen ausführlich beantwortet. Korin hatte sich auffallend wenig am Gespräch beteiligt, und auch Amira hatte gedankenversunken auf ihren Teller geblickt. Kaum war das Essen beendet, hatte sie über Kopfschmerzen geklagt, und Victorian hatte sich erboten, sie nach oben zu begleiten. Eloïses Eltern hatten sich ebenfalls zurückgezogen, und die beiden Geschwister waren in der Halle geblieben und hatten begonnen, den Tisch abzuräumen.
Victorian rieb sich über die Stirn. Eloïse hatte ihm gegenüber von fehlenden Bauern gesprochen, aber fehlende Diener hatte sie nie erwähnt. Auch aus Korin wurde er nicht schlau. Irgendwie hatte er vermutet, gut mit ihm auszukommen, doch Eloïses Bruder verhielt sich reserviert, fast schon abweisend. Seufzend streckte Victorian seine Füße dem wärmenden Feuer entgegen, als plötzlich draußen vor seinem Zimmer laute Stimmen erklangen. Eloïse und Korin waren die Treppe herauf gekommen und stritten sich! Er stand auf, ging zur Tür und legte sein Ohr an das Holz.
„Wie bist du nur auf diese dumme Idee gekommen, Eloïse, den Sohn eines Dukes samt seiner Verlobten hierher zu schleppen?“
„Er kann uns helfen!“
„Er ist ein hochnäsiger Kerl, der sich nicht im Geringsten für unsere Probleme interessiert!“
„Das stimmt nicht. Victorian ist … mein Freund.“
Victorian jubilierte innerlich, als er Eloïses Worte vernahm. Sie hatte ihn endlich wieder ihren Freund genannt! Doch bei Korins Erwiderung verflog seine Freude sofort.
„Dein Freund? Dass ich nicht lache! Ich ahne schon, welcher Art deine Freundschaft zu ihm ist. Toleriert es seine Verlobte, oder geht sie mit euch ins Bett?“
Statt einer Antwort ertönte ein klatschendes Geräusch. Eloïse musste ihrem Bruder eine Ohrfeige verpasst haben.
„Verdammt, Korin, bin ich es nicht wert, Freunde zu haben? Und schließlich habe ich das Ganze auch für dich gemacht, ich könnte auch etwas ganz anderes
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