Das rote Band
musste sie sich ihren Mitstudenten spätestens heute Abend beim festlichen Bankett stellen. Unsicher schaute sie im Saal umher.
„Auch auf der Suche nach einem freien Platz?“
Eloïses Kopf schnellte herum. Neben ihr stand ein großer, breitschultriger Mann Mitte zwanzig, der sie trotz ihres hohen Wuchses noch um Haupteslänge überragte. Die schwarzen Haare des Fremden waren zu einem lockeren Zopf gebunden, und mit seinen dunklen Augen betrachtete er sie freundlich und wartete auf ihre Antwort.
„Äh, ja, ich suche einen Platz“, erwiderte Eloïse überrascht und betrachtete beeindruckt die durchtrainierte Figur des Mannes, die sich unter seiner Kleidung abzeichnete. Er musste ein erfahrener Kämpfer sein. „Ich bin Korin of Coldhill“, stellte sie sich ihm vor.
„Mein Name ist Ian“, sagte er mit einem Nicken und wies mit der Hand in eine Ecke der Halle. „Wir können uns zusammen dort hinten hinsetzen.“
„Gerne.“ Erstaunt folgte Eloïse ihrem neuen Freund durch den Saal. Sie konnte sich nicht erklären, warum er ausgerechnet sie angesprochen hatte. So gut wie Ian aussah, hätten sich bestimmt alle Anwesenden gefreut, wenn er sich zu ihnen gesetzt hätte. Am Tisch angekommen, nahm Eloïse Ian gegenüber auf der Bank Platz, und sie bedienten sich beide aus den vor ihnen stehenden Schüsseln. Beglückt über diese unerwartete Lösung ihres Problems, stieg Eloïses Laune wieder. „Ich bin sehr gespannt auf das Ausbildungsjahr in Greystone“, begann sie die Unterhaltung mit Ian. „Nach all den Gerüchten über die Akademie, die ich auf der Reise hierher gehört habe …“
Interessiert sah Ian sie an. „Welche Gerüchte?“
„In den Gasthöfen und Herbergen wurde sehr viel über die Vorfälle bei der Abschlussfeier im April hier in Greystone gesprochen“, erklärte sie. „Du hast davon nichts mitbekommen?“
„Ich habe die letzten Monate sehr abgeschieden verbracht“, erwiderte Ian.
Durch diese Aussage fühlte Eloïse sich aufgefordert, ihr Wissen preiszugeben. Außerdem konnte sie dadurch verhindern, dass Ian sie über ihre Person auszufragen begann. „Es wird erzählt, der Earl of Greystone habe seit Jahren ein Verhältnis mit einem Mann – einem seiner Lehrer!“ Das Schweigen ihres Gegenübers deutete Eloïse als Schock über diesen wirklich unglaublichen Sachverhalt. „Das ist aber noch nicht alles“, fuhr sie fort, woraufhin Ian sie gespannt anblickte. Da sollte jemand nochmals behaupten, nur Frauen hätten Interesse am Klatsch! Von seiner Aufmerksamkeit angespornt, berichtete sie weiter: „Der eigentliche Skandal des Abends war jedoch die Bekanntgabe des neuen Fechtmeisters.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. „Ein Ehrloser.“
Ian starrte sie einen Moment an, dann fragte er: „Ist das so schlimm?“
Eloïse nickte. „Man sagt, er habe nie eine Schule besucht und besitze zudem eine äußerst zweifelhafte Vergangenheit. Auch soll er kaum älter sein als wir. Wie kann er da über genug Erfahrung verfügen, um ein guter Lehrer zu sein?“
„Das ist in der Tat eine berechtigte Frage“, gab Ian zu.
Eloïse schüttelte den Kopf. „Für mich ist das wieder einmal der Beweis, dass wichtige Ämter nur über Beziehungen zu erlangen sind!“, sagte sie aufgebracht. „Der Earl of Greystone hat diesem Ehrlosen den Posten des Fechtmeisters zugeschachert, weil dessen Bruder sein bester Freund ist und nicht aufgrund überzeugender Leistungen.“
Ian musste sich an seinem Brot verschluckt haben, denn er begann wild zu husten. Als er aufhörte, erklärte Eloïse: „Auf der anderen Seite ist es mir recht, wenn der Fechtmeister keine Ahnung vom Kämpfen hat. Dann merkt er vielleicht nicht, dass ich nicht so gut bin.“ Das war eine enorme Untertreibung, denn diese blöde Fechterei war in Wahrheit das, was ihr am meisten Sorgen bereitete. Ihr Bruder war schier verzweifelt, weil sie trotz wochenlangen Übens im Umgang mit dem Schwert überhaupt keine Fortschritte gemacht hatte.
„Du hast Angst vor dem Waffentraining?“, fragte Ian behutsam.
Eloïse zögerte mit der Antwort. Doch Ian wirkte nett, und sie war froh, sich jemandem anvertrauen zu können. „Mein Brud ... äh, ich habe oft erlebt, wie schwächere Schüler vorgeführt wurden und allerlei Demütigungen durch den Fechtmeister erfahren haben.“
„Das wird in Greystone nicht passieren.“
Seine Stimme klang dermaßen überzeugt, dass Eloïse ihn verwundert ansah. „Wie kannst du dir da so sicher
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