Das rote Band
herausfinden, dass sie eine Frau war, sie würde ihr die Augen auskratzen!
Das Essen, das nach dem Tanz serviert wurde, nahm Eloïse ebenfalls zusammen mit Ian ein. Und sie war sehr froh darüber: Die Gesellschaft des ehrlosen Fechtmeisters war ihr tausendmal lieber als die des hochmütigen Sohn des Dukes oder die der anstrengenden Studentinnen. Da Ian im Laufe des Abends gemerkt hatte, dass sie nicht gern über sich selbst sprach, beließ er es bei allgemeinen Themen: dem Wetter, das für die einzubringende Ernte ideal war, Neuigkeiten, die man über den Feldzug des Königs hörte, sowie Wissenswertes über das Leben in Greystone. Es war ein angenehmes Gespräch, trotzdem strengte es Eloïse sehr an, denn sie war die ganze Zeit hochkonzentriert. Ständig achtete sie darauf, ihre Stimme möglichst tief klingen zu lassen und keine damenhaften Floskeln zu verwenden. Und, als Ian Amüsantes über sein eigenes Studienjahr in der Akademie zum Besten gab, musste sie daran denken, nicht wie eine Lady nur dezent zu lächeln, sondern offen zu lachen. Müde rieb sie sich über ihr Gesicht. Hoffentlich ging es ihr bald in Fleisch und Blut über, sich wie ein Mann zu verhalten, denn ihr Verhalten dauernd zu kontrollieren, war furchtbar kräftezehrend. Und ihre Kraft würde sie brauchen, wenn morgen früh der Unterricht begann.
6
Angespannt und mit einem flauen Gefühl im Bauch lief Eloïse am nächsten Morgen zum Unterrichtsraum. Vor lauter Aufregung hatte sie auf das Frühstück verzichtet, und jetzt knurrte ihr der Magen. Man sah es ihr zwar nicht an, aber sie aß für ihr Leben gern. Auch das hatten die Gouvernanten bei ihrer Großtante ihr – neben ihrer Schwatzhaftigkeit – immer wieder vorgehalten: „Wahre Damen speisen , und Ihr schlingt alles hinunter wie ein Bauer!“
Eloïse bog in den Ostflügel ein, wo sich die Unterrichtsräume befanden, und hielt abrupt im Laufen inne: Im Gang standen ihre Mitstudenten in Gruppen laut lachend zusammen. Über ein Dutzend junge Männer Anfang zwanzig, einige schmächtig, doch die meisten größer als sie selbst. Furcht überkam Eloïse. Nicht nur die Angst vor Entdeckung ließ sie verzagen, sondern auch die Aussicht, gegen diese Riesen kämpfen zu müssen – da nutzte auch das Wohlwollen des Fechtmeisters nichts. Sie gehörte zu den Kleinsten, wie sollte sie da mit ihren bescheidenen Fähigkeiten auch nur einen Moment lang mit dem Schwert gegen diese breitschultrigen Kerle bestehen? Trotz dieser erschreckenden Vorstellung musste Eloïse plötzlich lächeln. Zu den Kleinen zu zählen, war eine ganz neue Erfahrung für sie und – vom Fechten einmal abgesehen – bestimmt gar keine so schlechte. Wenigstens für ihren hohen Wuchs musste sie sich nicht mehr schämen! Sie hob das Kinn und richtete sich zum ersten Mal seit ewiger Zeit selbstbewusst zu ihrer vollen Größe auf. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, bahnte sich ihren Weg zwischen den Männern hindurch und betrat den Unterrichtsraum.
Bis auf einen einzigen Studenten war der Saal noch leer. Der hochgewachsene Mann stand mit verschränkten Armen am Fenster und blickte in die Ferne, doch Eloïse erkannte ihn sofort: Das eindrucksvolle Profil des jungen Walravens war unverwechselbar, genau wie sein akkurat geflochtenes dunkelbraunes Haar und seine erlesene Kleidung. Er schien in Gedanken zu sein, doch der Ausdruck in seinen Augen verriet, dass er seine Umgebung sehr genau wahrnahm.
Hinter Eloïse drängten sich die anderen Studenten in den Raum, und sie nahm rasch an einem Tisch in der hintersten Ecke Platz. Ein wenig abseits zu sitzen, konnte sicher nicht schaden.
„Ich würde zu gerne wissen, warum er hier ist!“ Einer der hereinkommenden jungen Männer deutete auf Victorian, der immer noch regungslos am Fenster stand.
„Vielleicht eine Strafmaßnahme seines Vaters?“, mutmaßte sein Gesprächspartner. „Warum sonst muss der Sohn des Dukes of Walraven die Akademie of Greystone besuchen? Er hat alles: Reichtum, Einfluss, Macht. Wenn er etwas erlernen will, kann er sich jeden Privatlehrer leisten.“
„Ob er schon weiß, dass Raine auch hier ist?“, fragte der Erste und grinste.
Sein Freund antwortete ihm jedoch nicht, da Victorian sich in diesem Moment umgedreht hatte und ihnen einen eisigen Blick aus seinen blauen Augen zuwarf.
Eloïse atmete tief durch. Es tat gut, einmal nicht das Ziel von Hohn und Spott zu sein. Sollten die anderen ruhig weiter über Victorian lästern und sie in Ruhe
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