Das rote Band
hatten beide viel zu tun gehabt, und Ian hatte seine Vorbereitungen für den Unterricht sehr ernst genommen. Er hatte die Bibliothek nach Werken über Fechtkunst durchsucht und war dann tagelang in deren Lektüre versunken gewesen, wobei er sich ständig Notizen gemacht hatte. Anschließend hatte er sich mit den Büchern und seinen Niederschriften in die Waffenhalle verzogen und war nur zu den gemeinsamen Mahlzeiten in der Burg erschienen. Seine Akribie war Joanna fast unheimlich, doch sie wusste, was ihn antrieb: Er wollte Jake beweisen, die richtige Wahl als Fechtmeister zu sein. Ob dem so war, würde sich bald zeigen.
5
Greystone, August
Eloïse stieg aus der Kutsche aus, blieb einen Moment in der heißen Mittagssonne auf dem Vorplatz stehen und starrte auf die quadratische, zweigeschossige Burg mit den vier runden Ecktürmen vor ihr. Greystone . Sie war tatsächlich hier! Nachdem sie ihren Bruder von ihrem Vorhaben überzeugt hatte, war sie zuversichtlich an die Planung ihres Aufenthaltes in der Akademie gegangen. Natürlich rechnete sie mit einigen Schwierigkeiten, die sie jedoch hoffentlich würde lösen können. Sie musste nur darauf achten, sich auf keine näheren Kontakte mit den anderen Studenten einzulassen. Wenn die anderen sie für einen Eigenbrötler hielten, würden sie ihr bald keine Beachtung mehr schenken. Und das war wichtig, damit niemand ihre Verkleidung entdeckte. Außerdem war sie nicht nach Greystone gekommen, um neue Freunde zu finden, sondern um so viel Wissen wie möglich über ertragreichen Ackerbau zu erlangen. Alles andere war vollkommen unwichtig! Ihre Eltern nahmen an, sie würde die Frauenklasse besuchen. Mit Korin war sie darin übereingekommen, Mutter und Vater auch in diesem Glauben zu belassen.
Mutig machte Eloïse den ersten Schritt auf die Burg zu. Vor dem Hauptportal stand eine hübsche Frau mit hellbraunen Haaren und einem rosafarbenen Kleid, die die Ankömmlinge begrüßte. Eloïse hatte sie noch nie gesehen, aber alleine durch die gebieterische Haltung war deutlich, es handelte sich um die Burgherrin – Joanna of Greystone. Nun war es Eloïse doch mulmig zumute, denn ihre erste Bewährungsprobe stand bevor. Vielleicht saß sie in wenigen Augenblicken schon wieder in der Kutsche heimwärts. Sie trat vor die Burgherrin und räusperte sich. Lady Joanna wandte sich zu ihr, und in der letzten Sekunde fiel Eloïse ein, statt eines Knicks eine Verbeugung zu machen. „Ich bin Korin of Coldhill, Mylady“, erklärte sie, wobei sie darauf achtete, mit möglichst tiefer Stimme zu sprechen.
„Seid herzlich willkommen in der Akademie von Greystone, Korin“, begrüßte die Burgherrin sie. „Ich bin Lady Joanna.“ Ein Lächeln erschien in ihrem Gesicht, von dem Eloïse annahm, es ließ manches Männerherz höher schlagen.
Lady Joanna, die kurz auf eine Liste geblickt hatte, teilte ihr eine Zimmernummer mit. „Jeder Student erhält bei uns ein eigenes Zimmer“, erklärte sie Eloïse, die sich zwingen musste, ihre Erleichterung darüber nicht zu zeigen. „Die Räume liegen alle im Westflügel der Burg, die Zimmer der Herren befinden sich im Erdgeschoss, die der Damen im Obergeschoss“, fuhr Lady Joanna mit ihren Erläuterungen fort. „Die Diener laden Eure Reisekisten von der Kutsche und bringen sie in Euren Raum. Ihr geht am besten gleich in die große Halle, wo ein Mittagessen vorbereitet ist.“
Eloïse nickte und folgte der Anweisung der Burgherrin. Innerlich jubelte sie, ihre Verkleidung funktionierte! Allerdings wäre es auch zu schade gewesen, wenn sie sich ihr Haar umsonst abgeschnitten hätte. Damit niemand Verdacht schöpfte, hatte sie es recht kurz geschnitten, wobei sie darauf geachtet hatte, dass einzelne Strähnen ihr ins Gesicht hingen, um dieses etwas zu verbergen. Auf Schmuck und Schminke hatte sie vollständig verzichtet. Das einzig Unangenehme waren die Stoffbandagen um ihre Brust, die ihren kleinen Busen noch flacher drückten, sodass er unter dem weiten Hemd und dem Wams nicht auffiel.
Als Eloïse die große Halle betrat, verflog ihre Hochstimmung schlagartig. An allen Tischen saßen bereits junge Männer und Frauen, die in Unterhaltungen vertieft waren und sich seit Ewigkeiten zu kennen schienen. Sie kannte hier niemanden, was für ihr Vorhaben natürlich günstig war, aber wo sollte sie sich hinsetzen? Völlig Fremde anzusprechen, war ihr trotz ihrer Offenheit noch nie leicht gefallen. Doch irgendwo musste sie Platz nehmen, schließlich
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