Das rote Band
hatte die Tanzsuite geendet, ließ Rose Eloïse stehen und stürmte zu ihrer Familie. Eloïse konnte sie nur zu gut verstehen: Die letzte Viertelstunde war für Rose kein Vergnügen gewesen, sie hatte der Ärmsten mindestens zehn Mal auf die Füße getreten. Ihr selbst hatte es auch keine Freude bereitet. Tanzen hatte sie schon immer gehasst und mit Frauen zu tanzen, machte es nicht anziehender. Doch nun stand Eloïse einsam im vollen Festsaal. Sie war bei ihrer Großtante im nördlichen Königreich erzogen worden, die Adelsfamilien aus Telamen kannte sie nicht, und es schien sich auch niemand für sie zu interessieren. Das würde ein langer Abend werden, dachte sie und seufzte.
„Lust auf einen Schluck Wein, Korin?“, hörte sie plötzlich eine bekannte Stimme neben sich fragen. Eloïse sah auf – Ian stand neben ihr mit zwei Bechern in der Hand. „Ich habe letztes Jahr genauso verloren hier gestanden wie Ihr, nur leider hat mir niemand etwas zu trinken angeboten“, erklärte der junge Fechtmeister.
Dankbar nahm Eloïse sein Angebot an und folgte Ian, der sie nun schon zum zweiten Mal aus einer unangenehmen Situation erlöst hatte, in eine ruhigere Ecke des Festsaales. Schnell stellte sich heraus, dass Ian ebenfalls kaum einen der Anwesenden kannte. Bald waren sie in eine lebhafte Diskussion vertieft, welcher Gast welchen Namen trug und welchen Adelsrang er bekleiden könnte, wobei ihre Vermutungen mit steigendem Weingenuss immer abenteuerlicher wurden. Galad of Lionsbridge, der sich nach einiger Zeit zu ihnen gesellte, machte ihrem fröhlichen Rätselraten schließlich ein Ende, indem er ihnen entnervt Rang und Titel aller Lords und Ladies nannte. Nur bei einem Mann war eine Vorstellung gänzlich unnötig, denn sein Name verbreitete sich bei seinem Erscheinen wie ein Lauffeuer im Saal: Victorian of Walraven, der einzige Sohn des Dukes of Walraven.
In einer Manier, die dem König würdig gewesen wäre, betrat der zwanzigjährige Mann den Saal, und Eloïse verschlug es für einen Moment die Sprache. Victorian besaß ein umwerfendes Aussehen: Augen, vom tiefen Blau eines Gebirgssees, ein kantig geschnittenes Gesicht und dichtes, braunes Haar. Er war von großer Statur, und sein Körperbau verriet, dass er täglich mit der Waffe trainierte. Auch alle anderen Frauen im Raum starrten ihn unverhohlen an. Doch Victorian schien an diese Art von Aufmerksamkeit gewöhnt – und wohl auch nichts anderes zu erwarten. Ohne den Hauch eines Lächelns nahm er die bewunderten Blicke der Damen und die tiefen Verbeugungen der Herren zur Kenntnis. Mit zusammengezogenen Brauen schritt er wortlos durch den Festsaal, und die Menge teilte sich ehrfurchtsvoll vor ihm.
Was für ein arroganter Kerl, dachte Eloïse, als sie sich von der Faszination seines Anblicks befreit hatte. Er hielt es offensichtlich nicht einmal für nötig, auch nur einen der vielen Grüße zu erwidern! Vermutlich war Victorian auch absichtlich zu spät in Greystone angekommen, um am Debüttanz der Studenten nicht teilnehmen zu müssen. Obwohl ihr der Sohn des Dukes durch und durch unsympathisch war, beobachtete Eloïse ihn weiterhin unauffällig. Den ganzen Abend unterhielt er sich ausschließlich mit zwei Familien des Hochadels. Alle Edelleute unter dem Rang eines Marquess schienen für Victorian nicht zu existieren, mit Ausnahme des Earls of Greystone. Dass er mit diesem Verhalten den Großteil der Anwesenden vor den Kopf stieß, war ihm anscheinend gleichgültig. Über so viel Überheblichkeit konnte Eloïse nur die Nase rümpfen! Selbst die unerschrockene Rose hatte ihren Plan, Victorian zum Tanz aufzufordern, aufgegeben. Sie war mehrmals an ihm vorbeiflaniert und hatte ihm kokette Blicke zugeworfen, doch er hatte einfach durch sie hindurchgesehen. Dabei war die Studentin mit den hellblonden Haaren und den hohen Wangenknochen alles andere als unattraktiv. Aber Rose war nur die Tochter eines Viscounts und in Victorians Augen damit scheinbar keine geeignete Tanzpartnerin.
Auch Onora hatte mit ihrem Vorhaben kein Glück gehabt: Ian hatte sie höflich, aber bestimmt abgewiesen. Ihr Interesse schmeichle ihm, aber er wolle mit seiner Ehrlosigkeit ihren Ruf nicht schädigen, so seine knappe Erklärung. Doch Eloïse bezweifelte, dass Onora sich so leicht geschlagen geben würde. Nachdenklich strich sie sich eine kurze Strähne hinters Ohr, die sie im Gesicht kitzelte. Ian hatte, bis auf zwei Tänze mit Lady Joanna, immer bei ihr gestanden. Sollte Onora jemals
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