Das rote Band
lassen!
Der Gong, der den Beginn des Unterrichts ankündigte, hallte durch die Burg, und mit ihm erschien ihr Lehrer in der Tür: Galad of Lionsbridge. Er würde sie in Politik, Literatur, Rhetorik und Diplomatie unterweisen. Nach einer Vorstellungsrunde zählte ihnen Lord Lionsbridge ihre weiteren Fächer auf: Geschichte, Agrarkunde, Mathematik, Geografie, Fremdsprachen, Baukunst, zeitgemäße Kriegsführung, Feldmessen und Heilkunde sowie Unterricht im Tanzen, Reiten und Fechten. Eloïse schwirrte der Kopf. Das Einzige, was sie wirklich interessierte, war Agrarkunde. Den Rest konnte man ihres Erachtens ersatzlos streichen. Seufzend nahm sie ihre Feder und begab sich an das Anlegen eines Familienstammbaums, die erste Aufgabe, die Lord Lionsbridge ihnen gestellt hatte.
Zur zweiten Stunde betrat ein älterer Mann mit Glatze den Raum. Thomas Miller war ein Bürgerlicher und unterrichte kaufmännisches Rechnen an der Akademie. Eloïses Brauen zogen sich zusammen, und es fiel ihr schwer zuzuhören. Letztendlich war es die Schuld der Städter, dass es um Coldhill so schlecht bestellt war. Seit der Gründung der bürgerlichen Seehandelsgesellschaften hatte der Coldhill-Pass, einst der kürzeste Weg ins Nordreich, stetig an Bedeutung verloren und Eloïses Familie als Zollherrn damit ihre wichtigste Einnahmequelle.
Ein erneuter Gongschlag beendete den Vormittagsunterricht. Zwei Studenten – Prosper und Leroy, wie Eloïse sich erinnerte – sprangen auf und traten zu dem Tisch, an dem Victorian of Walraven saß.
„Oh, Seine Gnaden bekommt eine Eskorte zum Mittagessen in die große Halle!“, sagte jemand neben Eloïse. „Männer edelsten Geblüts, beide mit einem Marquess als Vater.“
Eloïse wandte den Kopf in Richtung des Sprechers und blickte in die irritierend grünen Augen von Raine of Skoken Islands. Der junge Mann lehnte lässig in seinem Stuhl und hatte die Füße auf den Tisch gelegt. Seine lockigen schwarzen Haare fielen offen auf seine Schultern herab, und er erweckte nicht den Eindruck, als hätte er sich heute Morgen die Mühe gemacht, sich zu rasieren.
„Verdammt, Raine, steh auf, ich habe Hunger!“ Ein Student mit rotblonden Haaren, kräftigem Körperbau und leicht abstehenden Ohren schob Raines Beine vom Tisch. „Komm, du kannst dich auch beim Mittagessen über Victorian lustig machen.“
„Ja, Harper.“ Raine stöhnte theatralisch und sprang auf. Er grinste Eloïse kurz zu, bevor er seinem Freund nach draußen folgte.
Eloïse blieb noch einen Moment sitzen und dachte über den Vormittag nach. Bisher hatte noch niemand Verdacht geschöpft. Zwar hatten einige Studenten sie auffällig gemustert, jedoch nichts weiter gesagt. Natürlich war ihr klar, dass sie einen seltsamen Anblick bot: kein Bartwuchs, eine schlaksige Figur, viel zu weite Kleidung und für einen Mann eine außergewöhnlich hohe Stimme. Hoffentlich glaubten die anderen nur, sie wäre in ihrer körperlichen Entwicklung zurückgeblieben. Das wäre das Beste! Eloïse stand auf und verließ den inzwischen leeren Unterrichtssaal, um ebenfalls in die große Halle zum Essen zu gehen. Doch ihr Appetit war sehr gedämpft, denn ihr war bewusst, dass ihre größte Bewährungsprobe noch bevorstand: Heute Nachmittag beim ersten Waffentraining durfte nicht der leiseste Zweifel daran aufkommen, sie sei kein Mann.
„… das wäre fürs Erste alles.“ Freundlich blickte Joanna die fünfzehn jungen Frauen an, die vor ihr saßen. Sie waren zwischen siebzehn und zwanzig Jahren alt und an ihrem ersten Unterrichtstag erfahrungsgemäß sehr aufgeregt. „Habt Ihr noch Fragen?“, erkundigte sie sich daher sicherheitshalber bei den Studentinnen.
Onora hob die Hand. „Ich würde gerne etwas wissen, allerdings nicht zum Tagesablauf oder dem Unterricht …“ Sie errötete, blickte aber Joanna entschlossen an.
„Zu den Lehrern?“ Die junge Frau nickte, und Joanna lächelte. Es waren doch immer die gleichen Fragen! „Lord Lionsbridge ist nicht verheiratet und auch noch keiner Dame versprochen.“
„Das wissen wir bereits, Lady Joanna“, antwortete Onora ungeduldig. „Was ist mit dem Fechtmeister?“
„Ian?!“ Joanna glaubte, sich verhört zu haben.
„Ja, Ian.“ Onora hatte alle Zurückhaltung verloren. „Warum ist er ein Ehrloser? Er ist doch kein Verbrecher, sonst würde ihn der Earl nicht in der Burg dulden, oder?“
Joanna fehlten die Worte. Das hatte sie nicht erwartet! „Nein, Ian wurde als zweiter Sohn des Barons of Darkwood
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