Das rote Band
Fähigkeiten?“
Niemand meldete sich, und auch Eloïse sah ratlos zu Boden. Aus Sympathie zu Ian hätte sie gerne etwas gesagt, doch sie konnte Crispins Leistung nicht einschätzen, da sie zu wenige Kenntnisse vom Schwertkampf besaß.
Schließlich übernahm Ian die Bewertung selbst. „Crispin ist ein durchschnittlicher Kämpfer.“ Er sah den jungen Mann offen an. „Das wisst Ihr auch selbst, Crispin, denn Ihr erliegt nicht dem Fehler, Euch zu überschätzen, was viele mittelmäßige Kämpfer gerne tun. Wir werden vor allem an Eurer Schnelligkeit arbeiten müssen, damit Ihr auch gegen stärkere Gegner eine Chance habt.“
Zufrieden über dieses Urteil setzte sich Crispin wieder auf die Tribüne. Harper allerdings verzog das Gesicht. „Ian soll es wagen, mir etwas dermaßen Erniedrigendes zu sagen!“, empörte er sich. „Was er selbst gezeigt hat, war alles andere als bravourös.“
„Wir machen weiter“, rief Ian und sah einen schlanken, hochgewachsenen Studenten an, der auf der untersten Stufe saß. „Wie wäre es mit Euch, Olric?“
Lustlos erhob sich Olric, zog sein Schwert und begann den Kampf mit Ian.
Bereits nach wenigen Schlägen brach Ian den Kampf ab. „Ihr braucht ein anderes Schwert, Olric. Dieses ist nicht gut für Euch.“
„Was?!“ Olric starrte ihn ungläubig an. „Das ist ein Erbstück! Mein Großvater hat es mir geschenkt, kurz bevor er starb. Ich habe noch nie eine andere Waffe benutzt.“
„Das Schwert ist ein wundervolles Andenken“, sagte Ian, „aber für einen anderen Mann angefertigt worden. Euer Großvater war vermutlich ein kleiner, gedrungener Mann. Ihr selbst seid groß – mit diesem Schwert verringert Ihr Euren Kampfradius erheblich.“
„Das Schwert war perfekt für meinen Großvater, und jetzt ist es perfekt für mich!“, rief Olric. „Damit zu kämpfen, ist mir eine Ehre!“
„Erwarte nicht, dass unser Fechtmeister dich versteht, Olric“, erklärte Victorian trocken. „Er hat keine Ehre mehr.“
„Olric“, sagte Ian, „ich rate Euch dringend zu einem längeren Schwert. Tragt das Erbstück an Festtagen.“
„Du hast mir keine Vorschriften zu machen!“, entgegnete Olric zornig, steckte sein Schwert in den Waffengürtel zurück und setzte sich wieder auf die Tribüne.
„Wer möchte als Nächster?“ Scheinbar völlig unberührt von den abfälligen Bemerkungen seiner Studenten sah Ian sich um, aber keiner hob die Hand. „Korin, kommt bitte zu mir“, bestimmte er schließlich.
Eloïse zuckte zusammen. Das war das Ende! All die Hoffnungen, die Ian gestern bei ihr geweckt hatte, waren verschwunden. Er wusste, dass sie schlecht war, und würde sein Versprechen, rücksichtsvoll zu sein, nicht halten, sondern sie vorführen! Und sie konnte es ihm nicht verübeln: Ian musste sich schnellstens Respekt bei den jungen Männern verschaffen, und das ging am besten, wenn er jemanden hinauswarf: sie!
Mit hängendem Kopf betrat Eloïse die Kampffläche, während sie verzweifelt das Schwert ihres Bruders umklammerte. Krampfhaft versuchte sie, sich an das zu erinnern, was Korin ihr beigebracht hatte. Vergeblich! Ihr Kopf war leer, und ihr war schlecht vor Aufregung. Zitternd hob sie ihr Schwert. Ian lächelte sie aufmunternd an, doch Eloïse erwiderte es nicht. Seine Probleme würden gleich gelöst sein. Mit aller Macht versuchte sie, sich zu konzentrieren. Wenigstens ein paar Kombinationen musste sie überstehen, sonst war alles umsonst gewesen. Doch die Angst lähmte ihre Gedanken und ihren Körper.
„Korin macht sich gleich in die Hose!“, rief Harper von der Tribüne herunter.
Ja, dachte Eloïse. Das könnte durchaus passieren.
„Korin, können wir anfangen?“ Ian sah sie fragend an.
Sie nickte stumm. Warum warten? Dann hatte sie es wenigstens hinter sich. Ian vollführte den ersten Schlag, und sie stand wie versteinert da. Sein Schwert traf ihres, und unter der Wucht des Aufpralls ließ sie es einfach fallen. Das Gelächter um sie herum nahm Eloïse kaum wahr. Sie starrte auf den Boden, wo ihr Schwert lag. Sie hatte die Nerven verloren und versagt, wie enttäuscht würde ihr Bruder sein! Beschämt bückte sie sich, nahm die Waffe an sich und wandte sich zum Ausgang der Halle.
„Korin?“ Ians Stimme hinter ihr klang ebenso freundlich wie verwundert. „Gebt Ihr immer so schnell einen Kampf auf?“
Sie blieb stehen. „Nein, eigentlich nicht“, antwortete sie leise.
„Das freut mich“, erwiderte Ian. „Stellt Euch wieder auf, wir fangen noch
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