Das rote Band
Freund werden und dann – schwupp – seine Frau.“
Victorian warf Harper einen kalten Blick zu. „Es ist unter meiner Würde, darauf zu antworten.“
Harper grinste. „Wie immer, Victorian, wie immer.“
„Wo ist eigentlich Ian, Lord Lionsbridge?“, wollte Raine wissen. „Wir haben ihn beim Frühstück vermisst.“
„Der Fechtmeister schläft vermutlich noch“, antwortete Galad und berichtete den jungen Männern von der erfolglosen Suche in der Nacht.
„Dürfen wir ihn wecken?“, fragte Raine. „Wir möchten ihm dringend etwas sagen.“
Schmunzelnd stimmte Galad der Bitte des Studenten zu. „An Unterricht ist heute Morgen sowieso nicht zu denken.“
Unter Raines Führung machten sich die Studenten auf zu Ians Zimmer. Doch gerade, als sie den Treppenturm erreichten, sahen sie Ian, der zusammen mit dem Kammerdiener des Earls vor der Bibliothek stand.
„Ich hole Lord Greystone“, sagte der Diener, während Ian die Tür öffnete und die Bibliothek betrat.
„Wir gehen hinein“, ordnete Raine an. „Wer weiß, wie lange Ian nachher mit dem Earl spricht.“
Ian staunte, als statt des Earls sich vierzehn junge Männer nacheinander in die Bibliothek drängten.
„Ian, wir müssen unbedingt mit dir wegen gestern Nacht sprechen“, rief Harper sogleich.
„Mir ist vollkommen bewusst, dass die Geschehnisse im Wald alleine meine Schuld sind, Harper“, entgegnete Ian mit ernster Stimme. „Ich war unvorsichtig.“ Er sah die Studenten der Reihe nach an. „Ich entschuldige mich dafür bei euch, es wird niemals mehr vorkommen. Ich bin hier, um meine Entscheidung dem Earl mitzuteilen.“
Verständnislos blickte Harper Ian an.
„Ian möchte uns zu verstehen geben“, erklärte Victorian, „dass er sein Amt als Fechtmeister niederlegen will.“
„Wegen gestern Nacht?“ Harper kratzte sich am Kopf.
„Ich bin meiner Verantwortung nicht gerecht geworden“, erklärte Ian, „und ihr musstet deswegen leiden.“
„Leiden?“ Harper stemmte die Hände in die Hüften. „Ian, was redest du für einen Mist? Die letzte Nacht war die beste meines Lebens!“
„Weil Korin fast getötet worden wäre?“, fragte Ian scharf.
„Nein, weil ich zum ersten Mal einen richtigen Kampf hatte!“ Harper wartete, bis die zustimmenden Rufe seiner Mitstudenten verklungen waren. „Ich gebe zu, am Anfang hatte ich Furcht. Aber dann, als ich mein Schwert in den Händen hielt – verdammt, Ian, dieses Gefühl musst du doch kennen! Es war unbeschreiblich, wie ein Rausch …“
Olric fiel ihm ins Wort. „All die Jahre, in denen uns unsere früheren Fechtmeister Angst gemacht haben mit ihren Erzählungen über Kämpfe auf Leben und Tod. Jetzt wissen wir endlich, wie es wirklich ist, und dass wir dem gewachsen sind!“
Raine nickte. „Was du uns beigebracht hast, war gut! Leroy und ich waren zusammen unschlagbar!“ Er klopfte dem schmächtigen jungen Mann neben sich auf die Schulter. „Und wie du erst gekämpft hast, Ian.“ Bewundernd sah er ihn an. „So etwas habe ich noch nie gesehen!“
„Das solltet ihr auch nie sehen“, antwortete Ian. „Und ... was das Gefühl angeht, Harper: Ja, ich kenne es nur zu gut.“
„Na also“, erwiderte Harper und tätschelte Ians Oberarm, „dann sind wir uns einig. Gestern Abend war grandios: gutes Bier, ein guter Kampf – fehlte nur noch eine gute Frau.“
„Genaugenommen hatten wir die auch.“ Finley lachte, und die anderen fielen mit ein.
„Was ist hier los?!“ Unbemerkt hatte Jake die Bibliothek betreten. „Ian, was soll das jetzt wieder?“
Die Studenten verstummten und sahen zu Ian, der auf den Earl zuschritt. „Jake, ich werde meine Stellung als ...“
Victorian trat Ian in den Weg und neigte den Kopf vor dem Earl. „Mylord, wir sind gekommen, um unsere Achtung und unser Vertrauen für Ian auszusprechen. Er hat uns sicher durch die Ereignisse der letzten Nacht gebracht – Ereignisse, die niemand voraussehen konnte. Wir haben Erfahrungen gemacht, die uns niemand mehr nehmen kann. Es wird das Erste sein, was ich meinem Vater berichten werde, wenn ich zum Erntedankfest in Walraven ankomme: das hohe Niveau des Fechtunterrichts und Ians vorbildliches, verantwortungsvolles Verhalten während des Überfalls.“
Sprachlos starrten Jake und Ian den jungen Studenten an.
Harper stieß Raine seinen Ellenbogen in die Rippen. „Das muss man Victorian lassen: Reden kann er!“
„Ja.“ Raine grinste. „Langsam wird mir Seine Gnaden direkt
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