Das rote Band
Brendan und Alan, die in der Nähe Wache gestanden hatten, heran und starrten ebenfalls ungläubig auf die ohnmächtige junge Frau hinab.
Eilig zog Ian die Stofflagen unter dem Körper der Verletzten hervor und schob ihr das Hemd von der linken Schulter. „Wir dürfen keine Zeit verlieren, wir müssen die Wunde verbinden, bevor Korin zu viel Blut verliert.“
Stumm hielt Victorian die junge Frau fest und presste einige Stofffetzen auf die Stichwunde, während Ian die Schulter mit dem restlichen Tuch umwickelte. Als er fertig war, bedeckte Ian den Oberkörper der Verwundeten so gut es ging mit dem zerrissenen Hemd. Vorsichtig schob er seine Hände unter die Achseln und Knie der jungen Frau und stand mit Victorians Hilfe auf. Die restlichen Studenten verließen ihre Wachposten und scharten sich um sie.
„Geht es Korin gut?“, fragte Raine, als er bei ihnen ankam.
„Er wird es überleben“, antwortete Ian, „oder besser gesagt: sie.“
Der Morgen graute bereits, als Ian sich in sein Bett legte. Joanna hatte die junge Frau im Krankenzimmer versorgt, und nun saß eine Magd bei Korin. Der Einfachheit halber hatte Ian beschlossen, diesen Namen einstweilen beizubehalten. Sollte Korin erwachen oder ihr Zustand sich verschlechtern, bekäme er sofort Bescheid.
Er selbst war, kaum hatte er die Studenten in der Burg in Sicherheit gewusst, mit Sir Perrin und zwanzig Soldaten in den Wald zurückgeritten, um ihre toten oder verwundeten Angreifer nach Greystone zu schaffen und etwas über ihre Identität herauszufinden. Doch als sie die Lichtung erreicht hatten, waren die Toten verschwunden. Jake war über diese Nachricht außer sich gewesen, und Ian konnte seine Wut gut verstehen. Auch er selbst hätte zu gerne gewusst, wer ihre Gegner gewesen waren – oder wer sie geschickt hatte.
Schließlich beendete Galad Jakes Schimpftiraden: „Entweder Adcoques Schergen oder Tagelöhner wie letztes Jahr bei Jakes Entführung. Es gibt auch immer wieder Gerüchte über marodierende Söldnergruppen. Ich werde mich umhören, aber heute Nacht finden wir nichts mehr heraus, weder über die Angreifer noch über die junge Frau.“
Ian starrte an die Zimmerdecke, die man im Dämmerlicht bereits schemenhaft erkennen konnte. Ob der Hinterhalt heute Nacht ein Zufall oder geplant gewesen war, eine Tatsache blieb: Er war innerhalb kürzester Zeit zweimal angegriffen worden und hatte beide Male dadurch Studenten in große Gefahr gebracht.
„Was ist mit Korin?“ Fragend sah Finley Galad an, der am nächsten Morgen aufgrund der Ereignisse anstelle von Lord Tennison vor den Studenten stand. „Ist er wirklich eine Frau?“
Galad nickte. „Lady Joanna hat es bestätigt.“
„Und wer ist sie?“, erkundigte sich Will.
„Da sie noch nicht aufgewacht ist, wissen wir es noch nicht. Mit Sicherheit ist sie eine Adlige“, erwiderte Galad, „ihr ganzes Benehmen spricht dafür.“
Harper runzelte die Stirn. „Aber warum hat sie sich dann verkleidet? Sie hätte doch als Frau kommen können.“
„Das ist die große Frage.“ Galad lächelte. „Was lernen die Männer in der Akademie, was bei den Frauen nicht unterrichtet wird?“
„Fechten!“, antwortete Harper.
„Es gibt zwar immer wieder kämpfende Frauen im Heer des Königs, aber ich glaube nicht, dass Korin es auf eine Laufbahn als Amazone abgesehen hatte“, sagte Galad, und die Studenten lachten.
„Was dann, Lord Lionsbridge?“, fragte Leroy.
„Ich denke, ihre Gründe lagen im Bereich des Ackerbaus, und Lord Tennison teilt meine Vermutung. Ich würde gerne wissen, ob sie wirklich aus Coldhill stammt. Aber vielleicht kann Victorian mir hierzu mehr sagen.“
Überrascht sah der junge Mann auf. „Korin hat mich genauso getäuscht wie alle anderen“, sagte er kühl.
„Diese Aussage ist wenig hilfreich, Euer Gnaden “, erwiderte Raine. „Lord Lionsbridge will wissen, ob sie dir was von ihrer Familie erzählt hat. Schließlich wart ihr die ganze Zeit zusammen.“
Galad räusperte sich. „Victorian?“
„Meiner Meinung nach kommt sie tatsächlich aus Coldhill. Und sie hat einen Bruder.“ Mittlerweile war ihm gedämmert, wer die junge Frau in Korins Skizzenheft war.
„Dann hat sie seine Zeugnisse genommen“, sagte Galad. „Denn die Urkunden sind echt.“
„Wahrscheinlich“, rief Harper, „hat sie sich nur als Mann verkleidet, um sich an Victorian heranzumachen. Ihr war klar, dass sie gegen die vielen Frauen keine Chance hatte. Also wollte sie erst sein
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