Das Rote Kornfeld
Mädchen, das später meine Mutter werden sollte.
Mutter konnte es sich nicht aussuchen: Sie musste ihre Hoffnung auf die schmutzige Pfütze setzen, in der die Kröte badete. Wie sehr der abscheuliche Anblick sie auch erschreckte, wie sehr sie sich auch davor ekelte, sie brauchte das Wasser, über das die Kröte herrschte. Unerträglicher Durst und das gefährdete Leben meines kleinen Onkels zwangen sie, sich wieder auf das Wasser in der Pfütze zu konzentrieren. Nichts hatte sich seit gestern geändert: Die Kröte hatte sich nicht bewegt, sondern saß so beeindruckend wie gestern an der gleichen Stelle. Mutter bekam eine Gänsehaut (genau wie gestern), wenn sie die warzenübersäte Haut ansah, und die düsteren Augen der Kröte starrten sie (genau wie gestern) feindselig an. Ihr frisch gefasster Mut verflog schnell. Die Kröte schien aus den Augen Giftpfeile auf sie abzuschießen. Sie wandte schnell den Blick ab, aber vor ihrem inneren Auge verschwand das dunkle Bild der Kröte nicht, und sie wollte vor Angst schreien.
Mutter wandte sich um und sah ihren sterbenden Bruder an, und das Feuer in ihrer Brust geriet außer Kontrolle. Die Flammen schienen ihr aus dem Hals zu schlagen. Ihr Blick fiel auf einen winzigen Klumpen milchweißer Pilze, die unter zwei Ziegelsteinen wuchsen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, als sie die Steine beiseite schob und ein paar Pilze pflückte. Ihre Därme verknoteten sich, als sie die Nahrung in ihrer Hand ansah, und ihr Magen begann zu knurren. Sie schob einen Pilz in den Mund und schluckte ihn unzerkaut. Er schmeckte so gut, dass sie auf einmal wieder hungrig wurde. Sie steckte noch einen Pilz in den Mund.
Mein kleiner Onkel stöhnte leise, aber Mutter beruhigte ihr schlechtes Gewissen, indem sie sich einredete, dass sie die Pilze doch probieren musste, um sicherzugehen, dass es keine Giftpilze waren. Das ist doch richtig, oder nicht? Doch, das ist richtig. Sie steckte meinem Onkel einen Pilz in den Mund, aber seine Kiefer bewegten sich nicht. Seine Augen waren winzig klein geworden, und er sah sie nur an. «Anzi, iss das! Ich habe es für dich gefunden. Iß es!» Sie hob noch einen Pilz auf und wedelte damit vor seinem Gesicht hin und her. Seine Kiefer zuckten wie in einer Kaubewegung, also fütterte sie ihn mit einem weiteren Pilz. Aber er hustete nur und spuckte alles aus. Inzwischen waren seine Lippen so rauh und aufgesprungen, dass sie bluteten. Wie er da auf dem Ziegelboden lag, schien sein Leben an einem dünnen Faden zu hängen.
Mutter schlang ein Dutzend Pilze hinunter, und ihre Eingeweide, die in Winterschlaf gefallen waren, erwachten mit lautem Gurgeln und schmerzhaften Zuckungen zu neuem Leben. So stark wie jetzt hatte sie noch nicht geschwitzt, seit man sie in den Brunnen herabgelassen hatte. Es sollte das letzte Mal sein. Ihre Kleider waren schweißgetränkt, die Achselhöhlen und Kniegelenke waren nass und klebrig. Plötzlich verspürte sie einen rauhen Schmerz in den Knien und begann zu frösteln. Die kühle Luft des Brunnens drang ihr durch Mark und Bein. Allmählich glitt sie zu Boden und blieb neben ihrem kleinen Bruder liegen. Gegen Mittag des zweiten Tages im Brunnen verlor Mutter das Bewusstsein.
Als sie aufwachte, senkte sich die Abenddämmerung. Sie sah purpurfarbenes Licht auf der Ostwand des Brunnens, als die Sonne im Westen unterging. Die alte Winde war in mildes Abendlicht getaucht, und Mutter hatte den widersprüchlichen Eindruck, eine ferne Vergangenheit und das Nahen des Jüngsten Tages gleichzeitig zu sehen. Hinter dem unablässigen Dröhnen in ihren Ohren glaubte sie jetzt Schritte zu hören, die von außen kamen, aber sie wusste nicht, ob das Wirklichkeit oder Einbildung war. Sie war zu schwach, um zu rufen, und als sie die Augen öffnete, war sie so durstig, dass ihre Brust zu glühen schien. Sogar das Atmen verursachte bohrenden Schmerz. Mein kleiner Onkel war bereits jenseits von Freude und Schmerz. Er lag auf dem Boden und schrumpfte allmählich zu einem Häufchen welker gelber Haut zusammen. Als Mutter in seine tief eingesunkenen trüben Augen sah, wurde ihr schwarz vor den Augen, und der Schleier des Todes senkte sich düster über den trockenen Brunnen.
Die zweite Nacht im Brunnen verging wie im Fluge. Mutter verbrachte die sternklare Nacht im Halbschlaf. Ein paar Mal träumte sie, ihr wüchsen Flügel und sie kreise in der Luft, immer höher, dem Brunnenrand entgegen. Aber der Brunnenschacht war endlos, und wie weit sie auch flog, sie kam
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