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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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verstreut. Im schlammigen Wasser des Grabens vor der Mauer trieben die aufgeblähten Leichen von zehn Männern und ein paar japanischen Pferden mit aufgerissenen Bäuchen. Überall sah man eingestürzte Wände, gesprengte Deiche und weißen Rauch, der sich noch immer zum Himmel emporwand. Die Hirsefelder jenseits des Dorfs waren zertrampelt und verwüstet. Der Morgen roch nach Brand und Blut, seine Farben waren Rot und Schwarz, Trauer und Wehmut durchzogen ihn.
    Großvaters Augen waren blutunterlaufen, sein Haar war über Nacht weiß geworden, sein Rücken war gekrümmt, und die großen geschwollenen Hände suchten nach Halt auf seinen Knien.
    «Dorfgenossen», seine Stimme war rauh und heiser. «Ich habe Verderben über das ganze Dorf gebracht.»
    Sie fingen an zu schluchzen, und in den leeren Augenhöhlen des Blinden sammelten sich helle Tränen.
    «Kommandant Yu, was sollen wir jetzt tun?» fragte Guo Yang mit den schwarzen Zähnen und stand auf seine Krücken gestützt auf.
    «Kommandant Yu, kommen die Japaner wieder?» fragte Wang Guang.
    «Kommandant Yu, hilfst du uns, hier wegzukommen?» fragte die schluchzende Liu.
    «Wegkommen?» sagte der Blinde. «Wohin? Ihr könnt ja wegrennen, aber ich kann nur hier sterben.»
    Er setzte sich, zog die abgewetzte Zither an die Brust und zupfte mit zuckendem Mund und zuckenden Wangen, mit hin- und herpendelndem Kopf die Saiten.
    «Dorfgenossen», sagte Großvater, «wir können nicht weglaufen. Nicht jetzt, wo so viele gestorben sind. Die Japaner werden wiederkommen, also sammelt schnell die Waffen und die Munition der Toten ein. Wir werden gegen die Japaner kämpfen, bis der Fisch stirbt oder das Netz reißt.»
    Vater und die anderen verteilten sich im Feld, nahmen den Toten Waffen und Munition ab und trugen ihre Beute hinter die Dorfmauer. Guo Yang auf seinen Krücken und Frau Liu mit den vereiterten Beinen beschäftigten sich mit den höher gelegenen Leichen, und der Blinde saß neben dem wachsenden Haufen von Waffen und Munition und spitzte als guter Wächter die Ohren.
    Am Mittag versammelten sie sich an der Dorfmauer, und Großvater stellte ein Inventar des Waffenlagers auf. Weil die Kämpfe am Abend zuvor bis zum Einbruch der Dunkelheit angedauert hatten, waren die Japaner nicht mehr in der Lage gewesen, das Schlachtfeld abzusuchen, was Großvater sehr zustatten kam.
    Sie hatten siebzehn japanische .38er Repetiergewehre und vierunddreißig lederne Patronengürtel mit insgesamt eintausendundsieben Kupfermantelgeschossen eingesammelt. Außerdem hatten sie vierundzwanzig chinesische Kopien von tschechischen .79er Gewehren und vierundzwanzig Gürtel mit vierhundertzwölf Patronen gefunden. Dann gab es noch siebenundfünfzig japanische Eierhandgranaten und dreiundvierzig chinesische Handgranaten mit Holzgriff. Außerdem gehörten zur Beute eine japanische Schildpattpistole mit neununddreißig Schuss Munition, eine Luger mit sieben Patronen, neun japanische Säbel und sieben Karabiner mit mehr als zweihundert Magazinen.
    Als die Bestandsaufnahme abgeschlossen war, lieh sich Großvater Guo Yangs Pfeife und setzte sich zum Rauchen auf die Dorfmauer.
    «Vater», fragte mein Vater, «können wir eine eigene Armee aufstellen?»
    Großvater blickte schweigend auf den Waffenhaufen. Als er mit der Pfeife fertig war, sagte er: «Also los, Kinder, sucht euch Waffen aus. Für jeden eine.»
    Er griff in den Stapel und zog die Pistole mit dem Lederhalfter heraus, die aussah wie aus Schildpatt, und legte den Gürtel um. Außerdem nahm er ein . 3 8er Repetiergewehr mit aufgestecktem Bajonett. Vater griff nach der Luger. Wang Guang und Dezhi wählten japanische Karabiner.
    «Gib Onkel Guo die Luger», befahl Großvater.
    Vater, dem das nicht passte, murmelte vor sich hin. «Das ist keine gute Waffe, wenn du in die Schlacht musst», sagte Großvater. «Ich will, dass du einen Karabiner nimmst.»
    «Ich will auch einen Karabiner», sagte Guo Yang. «Gebt die Luger dem Blinden.»
    «Mach uns etwas zu essen, Tantchen», sagte Vater. «Die Japaner werden bald wieder da sein.»
    Vater hob eine .38er auf und spielte geräuschvoll mit dem Abzug herum.
    «Gib acht!» sagte Großvater. «Die Flinte kann losgehen.»
    «Das weiß ich»», sagte Vater, «mach dir nur keine Sorgen.»
    «Sie kommen, Kommandant Yu», sagte der Blinde. «Ich kann sie hören.»
    «In Deckung», befahl Großvater, «und beeilt euch!»
    Sie kauerten sich unter den weißen Ligustersträuchern nieder, die hinter der Mauer

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