Das Rote Kornfeld
losband. «Braver kleiner Anzi»», sagte sie tröstend, «du musst nicht weinen, kleiner Bruder. Wenn du weiter weinst, kommen die Japaner. Wenn sie kleine Jungen weinen hören, kommen sie mit ihren roten Augen und den langen grünen Fingernägeln ...»
Das brachte ihn zum Schweigen. Aus kleinen runden schwarzen Augen sah er sie an. Immer noch schluchzend, legte er die Arme um den Hals seiner Schwester. Immer neue Granatexplosionen erleuchteten den Himmel. Jetzt kamen auch Maschinengewehrsalven und Gewehrfeuer dazu. Peng, peng, peng ... eine Pause, und wieder ... peng, peng, peng. Mutter sah zum Himmel auf und lauschte auf jede Bewegung in der Nähe des Brunnens. Aus der Ferne hörte sie die Rufe des Dorfältesten Ruolo und die Schreie der Dorfbewohner. Im Brunnen war es kalt und feucht. Ein Stück Wand bröckelte ab und gab helle Erde und eine Baumwurzel frei. Die Ziegel der Brunnenwand waren mit dunkelgrünem Moos bedeckt. Mein kleiner Onkel rührte sich in ihren Armen und fing wieder an zu schluchzen: «Schwester, ich will zu Mama, wieder rauf ...»
«Anzi, braves Brüderchen ... Mama ist mit Papa gegen die Japaner kämpfen gegangen. Sie holen uns, sobald sie sie vertrieben haben.»» Dann fing Mutter bei dem Versuch, ihren kleinen Bruder zu trösten, selbst an zu schluchzen. Sie umklammerten einander so fest sie konnten, und ihre Schluchzer und ihre Tränen vermengten sich.
Das fahle Licht am Himmel verkündete Mutter den herannahenden Morgen. Irgendwie hatten sie die lange Nacht überstanden. Die Stille im Brunnen war unheimlich, beängstigend. Sie blickte auf und sah einen roten Lichtstrahl, der das Brunnenloch über ihr erhellte. Die Sonne war aufgegangen. Sie lauschte angespannt, aber das Dorf schien so still wie der Brunnen. Nur gelegentlich hörte sie etwas wie Donner über den Himmel rollen. Sie fragte sich, ob ihre Eltern an diesem neuen Tag kommen und sie aus dem Brunnen holen und in die Welt des hellen Lichts und der frischen Luft zurückführen würden, in eine Welt ohne dunkle gestreifte Schlangen und dunkelhäutige Kröten. Die Ereignisse des vergangenen Vormittags schienen so fern, dass es ihr vorkam, als habe sie ein halbes Leben im Brunnenloch verbracht. Vater, dachte sie, Mutter, wenn ihr nicht kommt, werden mein Bruder und ich hier unten sterben. Sie fing an, die Eltern zu hassen, die ihre Kinder in den Brunnen geworfen hatten und einfach verschwunden waren, ohne sich darum zu kümmern, ob sie überhaupt noch lebten. Wenn sie wiederkämen, wollte sie heulen und eine Szene machen, um den Bauch voll Ärger loszuwerden, der sich in ihr angesammelt hatte. Wie konnte sie wissen, dass ihre Mutter, meine Großmutter mütterlicherseits, während sie ihren Hassgedanken nachhing, schon von einer japanischen Granate in Stücke gerissen worden war und dass ihr Vater, mein Großvater mütterlicherseits, sich auf der Mauer feindlichem Beschuss ausgesetzt hatte und dass eine Kugel, die ihr Ziel von selbst zu finden schien, die eine Hälfte seines Kopfes weggerissen hatte? (Mutter hat mir erzählt, dass die japanischen Soldaten vor 1940 ausgezeichnete Scharfschützen waren.)
Mutter betete stumm: Vater! Mutter! Kommt wieder! Beeilt euch ! Ich habe Hunger. Ich habe Durst. Mein kleiner Bruder ist krank. Ihr bringt eure Kinder um, wenn ihr nicht bald kommt! Von der Dorfmauer her, oder vielleicht auch von woanders her, hörte sie undeutlich einen Gong, dann eine Stimme aus der Ferne: «Ist da jemand? Ist da noch jemand? Die Japaner sind fort. Kommandant Yu ist da ...»
Mutter nahm meinen kleinen Onkel auf den Arm und stand auf. «Ja»», rief sie, «ja, hier ... wir sind hier im Brunnen ... rettet uns ... macht schnell ...» Sie griff nach dem Seil, das noch immer an der Winde hing, und schüttelte es verzweifelt. Sie rief eine Stunde lang um Hilfe. Allmählich wurden ihre Arme müde, und ihr Bruder fiel mit schwachem Stöhnen zu Boden. Dann war da nur noch Stille. An die Wand gelehnt, glitt sie langsam herab, bis sie erschöpft und niedergeschlagen auf den kalten, zerbrochenen Ziegeln saß.
Mein kleiner Onkel kletterte auf ihren Schoß und sagte ganz ruhig: «Schwester, ich will zu meiner Mama!»»
Gewaltige Traurigkeit überkam Mutter, die die Arme um meinen kleinen Onkel schlang. «Anzi», sagte sie, «Papa und Mama wollen nichts mehr von uns wissen. Wir beide werden hier im Brunnen sterben.»
Mein kleiner Onkel glühte vor Fieber und fühlte sich in ihren Armen an wie ein Holzkohlenbecken.
«Schwester,
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