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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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der Öffnung nicht näher. Sie versuchte, schneller zu fliegen, aber der Schacht wurde immer tiefer. Einmal erwachte sie in dieser Nacht kurz und spürte den kalten Körper ihres Bruders neben sich. Sie konnte den Gedanken, er könne tot sein, nicht ertragen, und stellte sich vor, dass er warm und fiebergeschüttelt sei. Ein Mondstrahl fiel auf die grünliche Pfütze und ließ die Kröte wie ein kostbares Juwel erstrahlen, dessen Augen und Haut hell wie Jade glänzten. Die Pfütze strahlte einladend wie ein Meer von Smaragden. In diesem Augenblick erkannte Mutter, dass ihre Wahrnehmung der Kröte sich verändert hatte. Sie glaubte eine Übereinkunft mit dem heiligen Amphibium treffen zu können : Das Tier würde ihr so viel von seinem Wasser abgeben, wie sie brauchte, und dafür würde sie es wie einen Stein aus dem Brunnen schleudern, falls es dies wünschen sollte. Morgen, dachte sie, wenn ich morgen Schritte höre, werde ich Steinsplitter aus dem Brunnen werfen, selbst wenn es Japaner oder chinesische Marionettensoldaten sind, die vorbeimarschieren. Sie musste irgend jemanden darauf aufmerksam machen, dass hier unten jemand war.
    Als der Tag anbrach, wusste Mutter alles über den Boden des Brunnens, der für sie zur Welt geworden war. Von morgendlicher Energie gestärkt, kratzte sie eine grüne Moosschicht von der Wand und steckte sie in den Mund. Es schmeckte nicht schlecht, allenfalls ein wenig scharf. Das Problem war ihr Hals, der zu trocken war, um richtig zu arbeiten, und wenn sie versuchte, das sorgfältig durchgekaute Moos hinunterzuschlucken, kam es sofort wieder zurück. Ihr Blick fiel wieder auf die Pfütze, aus der die Kröte sie noch immer mit giftigen Blicken verfolgte. Das bösartige, sie hochmütig anstarrende Tier war mehr, als sie ertragen konnte, und sie wandte den Kopf ab und weinte Tränen der Angst und der Wut.
    Gegen Mittag war sie überzeugt, Schritte und menschliche Stimmen zu hören. Von plötzlicher Freude überwältigt, stellte sie sich auf ihre schwankenden Beine und schrie so laut sie konnte. Aber kein Laut drang über ihre Lippen. Es war, als erwürge man sie. Sie hob einen Stein auf, konnte ihn aber nicht höher als bis zur Hüfte heben; er entglitt ihrer Hand und fiel zu Boden. Alles war vorbei. Sie hörte, wie die Schritte und die Stimmen in der Ferne verschwanden, und saß mutlos und niedergeschlagen neben der Leiche ihres Bruders. Als sie ihm ins Gesicht sah, wusste sie, dass er tot war. Sie legte die Hand auf sein kaltes Gesicht, und Abscheu überkam sie. Der Tod hatte sie geschieden. Der starre Blick seiner gebrochenen Augen gehörte zu einer anderen Welt.
    Sie verbrachte die Nacht in panischem Schrecken, denn sie glaubte, eine Schlange, so dick wie der Stiel einer Sichel, gesehen zu haben. Sie war schwarz, und auf ihrem Rücken waren kleine gelbe Punkte verstreut. Sie hatte einen flachen Kopf wie eine Mörtelkelle, und um den Hals zog sich ein gelbes Band. Die kalte, düstere Atmosphäre im Brunnen entströmte dem Körper der Schlange. Mehr als einmal glaubte sie zu fühlen, wie die Schlange sich um ihren Körper wand. Die flickernde Zunge verschoss rote Pfeile, und aus dem Mund wehten kalte Windstöße.
    Schließlich entdeckte sie die schwerfällige, langsame Schlange tatsächlich in einem Mauerloch über der Kröte. Nur der Kopf ragte aus der Höhle hervor. Die grauenhaften reglosen Augen waren starr auf Mutter gerichtet. Sie schlug die Hände vor die Augen und wich so weit zurück, wie sie konnte. Jeder Gedanke daran, das schmutzige Wasser zu trinken, das von oben durch eine giftige Schlange und von unten durch eine bösartige Kröte bewacht wurde, verging ihr.
     
     
4
     
    Vater, Wang Guang (männlich, fünfzehn Jahre, klein, hager, dunkle Gesichtsfarbe), Dezhi (männlich, vierzehn Jahre, lang, dürr, gelblicher Teint, Triefaugen), Guo Yang (männlich, über vierzig, verkrüppelt, läuft auf Krücken), der Blinde (wirklicher Name unbekannt, Alter unbekannt, trennt sich nie von seiner abgewetzten dreisaitigen Zither), Frau Liu (über Vierzig, groß und kräftig gebaut, Geschwüre an den Beinen): Die sechs Überlebenden des Massakers starrten Großvater mit stumpfem Blick an (alle, außer dem Blinden natürlich). Sie standen auf der Dorfmauer, die Morgensonne spiegelte sich in ihren Gesichtern, die von den dichten Rauchschwaden und den ringsum wütenden Bränden verzerrt schienen. Zu beiden Seiten der Mauer lagen die Leichen tapferer Verteidiger und fanatischer Angreifer

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