Das Rote Kornfeld
ich habe Durst.»»
Mutters Blick fiel auf eine schmutziggrüne Pfütze am Brunnenrand. Sie lag in einer Höhlung im Boden, die noch dunkler war als die Stelle, an der sie saß. Eine hagere Kröte saß mitten im Wasser. Ihr Rücken war von hässlichen bohnengroßen Warzen bedeckt. Die gelbliche Haut unter ihrem Maul blähte sich unablässig auf und fiel wieder zusammen. Die hervorquellenden Augen starrten sie zornig an. Sie schüttelte sich, ihre Haut juckte, und sie presste die Augen fest zu. Auch ihr Mund war ausgetrocknet, aber lieber wäre sie vor Durst gestorben, als das schmutzige Krötenwasser zu trinken, auf dem kleine Schaumbläschen trieben.
Mein kleiner Onkel fieberte seit dem vergangenen Nachmittag. Er hatte in dem Augenblick angefangen zu weinen, in dem seine winzigen Füße den Brunnenboden berührten, und er hatte nicht aufgehört, bis seine Stimme versagte. Jetzt brachte er nur noch ein klägliches Winseln hervor, wie ein sterbendes Kätzchen.
Seit dem gestrigen Morgen war keine Minute vergangen, die Mutter nicht in Angst und Schrecken verbracht hätte: Panik vor dem Gewehrfeuer, das man aus dem Dorf und der Umgebung hörte. Angst um das Leben ihres kleinen Bruders. Die Fünfzehnjährige war zart für ihr Alter und schaffte es kaum, ihren wohlgenährten Bruder, der sich in ihren Armen wand, die ganze Zeit zu halten. Einmal verprügelte sie ihn, und der kleine Schurke biss sie in den Arm.
Jetzt, im Fieber, kam mein kleiner Onkel nur noch ab und zu zu Bewusstsein und lag reglos in Mutters Armen, die auf der scharfen Kante eines zerbrochenen Ziegels saß, bis ihr Gesäß erst wund wurde und schmerzte, bis sie es schließlich nicht mehr spürte. Am Ende schliefen auch noch ihre Beine ein. Das Gewehrfeuer war einmal geballt, dann wieder verstreut zu hören, aber es hörte nicht einen Augenblick ganz auf. Langsam zog das Sonnenlicht über die westliche Wand des Brunnens, dann über die Ostwand, und schließlich wurde es dunkel. Mutter wusste, dass sie einen ganzen Tag in dem Brunnen verbracht hatte und dass ihre Eltern bald wiederkommen würden. Sie strich mit der Hand über das glühendheiße Gesicht ihres kleinen Bruders. Sein Atem fiel wie eine Flamme auf ihre Finger. Sie legte die Hand über sein pochendes Herz und konnte in seiner Brust ein Ächzen hören. In diesem Moment wurde ihr klar, dass er sterben könnte, und sie zitterte vor Furcht. Aber sie zwang sich, nicht daran zu denken. Es dauert nicht mehr lange, tröstete sie sich selbst, es dauert nicht mehr lange. Draußen wird es dunkel, und selbst die Schwalben sind zum Nest geflogen, also werden Mama und Papa bald da sein.
Der Lichtschein auf der Brunnenwand wurde dunkelgelb, dann rot. In der Wand begann eine Grille zu zirpen, und die Moskitos in den Ritzen ließen ihre Motoren anlaufen, um auszuschwärmen. Dann hörte Mutter das Geräusch einer Granatexplosion nahe an der Dorfmauer und Schreie von Menschen und Tieren im nördlichen Teil des Dorfes. Es folgten Maschinengewehrsalven im Süden. Als das Feuer nachließ, überschwemmten der Hufschlag galoppierender Pferde und die Schreie menschlicher Stimmen das Dorf wie eine Flutwelle. Pferdehufe und Reiterstiefel rund um den Brunnen, der laute Klang japanischer Stimmen. Mein kleiner Onkel begann vor Schmerz zu stöhnen, aber Mutter legte eine Hand auf seinen Mund und hielt den Atem an. Sie fühlte, wie sein Gesicht unter ihrer Hand heftig zuckte, und spürte ihren eigenen schweren Herzschlag.
Als die Strahlen der Sonne erloschen, blickte sie zum roten Himmel über dem Brunnen auf. Überall knisterten Feuer, und rote Asche trieb über den Brunnen. Das Geräusch auflodernder Flammen mischte sich mit dem Weinen der Kinder und den Schreien der Frauen. Dazu kam das Meckern der Ziegen und das jämmerliche Muhen der Rinder. Selbst hier tief unten im Brunnen konnte Mutter den Brandgestank riechen.
Sie wusste nicht, wie lange sie sich vor Schreck über die Brände, d ie über ihr tobten, geschüttelt hatte, denn inzwischen hatte sie jeden Zeitsinn verloren. Dennoch war sie äußerst empfindsam und erlebte alles mit, was sich über ihr ereignete. Das kleine Segment dunklen Himmels, das sie über sich sah, verriet ihr, dass die Feuer erloschen, denn an der Brunnenwand flackerten und erstarben kleine helle Flecken. Anfangs hörte sie gelegentlich Gewehrfeuer und das Geräusch eines einstürzenden Daches. Aber nach einiger Zeit waren da nur noch Stille und ein paar schwach glimmernde Sterne im Himmel
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