Das Rote Kornfeld
über ihr.
Mutter schlief ein und wachte ausgekühlt auf. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und als sie zu dem blassblauen Himmel und den zarten Strahlen der Morgensonne aufblickte, die sich an der Brunnenwand brachen, wurde ihr schwindlig. Die Feuchtigkeit des Brunnens hatte sich in ihre Kleider gezogen, und die kalte Luft drang ihr bis in die Knochen. Sie drückte ihren kleinen Bruder fest an sich. Sein Fieber hatte im Laufe der Nacht nachgelassen, aber er war immer noch viel wärmer als sie. Mutter saugte die Wärme meines Onkels auf und spendete ihm ihre Kühle. So fanden sie dort unten im Brunnen die wahre Symbiose des Überlebens. Mutter, die nicht wissen konnte, dass ihre Eltern schon lange tot waren, hoffte jeden Augenblick darauf, ihre Gesichter zu erblicken und das Echo ihrer vertrauten Stimmen von den Wänden widerhallen zu hören. Hätte sie die Wahrheit gewusst, hätte sie jene drei Tage und Nächte im Brunnen wohl kaum überlebt.
Blicke ich zurück auf die Geschichte meiner Familie, so muss ich feststellen, dass das Schicksal aller ihrer wichtigen Mitglieder in irgendeiner Weise unlösbar mit einer dunklen, feuchten Höhle verbunden ist. Mutter war die erste. Dann übertraf Großvater alle anderen und lebte länger als irgendein zivilisierter Mensch seiner Generation in einer Höhle. Schließlich kam Vater und steuerte einen Epilog bei, der politisch gesehen alles andere als ruhmreich war, aber vom rein menschlichen Standpunkt her als großartig betrachtet werden muss. Als die Zeit gekommen war, schüttelte er den einen Arm, der ihm geblieben war, gegen die roten Wolken des Morgengrauens und eilte auf den Flügeln des Windes zu Mutter, meinem älteren Bruder, meiner älteren Schwester und mir.
Mutter fror, wo sie die Außenwelt berührte, und wurde innerlich von einem glühenden Feuer verzehrt. Sie hatte seit dem vergangenen Morgen nichts getrunken oder gegessen. Seit der letzten Nacht, als Flammen das Dorf verschlungen hatten, quälte sie brennender Durst, und seit Mitternacht war unerträglicher Hunger dazugekommen. Im Morgengrauen schienen sich ihre Eingeweide zu Knoten zu verschlingen, bis sie nichts mehr empfand als den nagenden Schmerz im Magen. Aber jetzt ekelte sie schon der Gedanke an Nahrung. Nur noch der Durst schien unerträglich. Ihre Lungen waren rauh und rissig, ihr Atem klang wie das Knistern welker Hirse, die Schmerzen, unter denen ihr Hals sich verkrampfte, waren unerträglich.
Noch einmal krächzte mein kleiner Onkel traurig aus blasenübersäten rauhen Lippen: «Schwester ... ich habe Durst ...» Mutter brachte es nicht über sich, in sein zusammengeschrumpftes Gesicht zu blicken, und ihr fehlten die Worte, ihn zu trösten. Keine der Versprechungen, die sie den ganzen Tag und in der Nacht gemacht hatte, hatte sich erfüllt. Weil ihre Eltern nicht wiedergekommen waren, musste sie ihn und sich selbst belügen. Die Gongschläge von der Mauer hatten aufgehört, und aus dem Dorf hörte man nichts mehr, nicht einmal das Bellen eines Hundes. Jetzt kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, ihre Eltern könnten tot oder in japanische Gefangenschaft geraten sein. Sie verspürte ein trockenes Brennen in den Augen, aber sie konnte keine Tränen mehr vergießen. Das Elend ihres kleinen Bruders hatte sie erwachsen werden lassen.
Für einen Augenblick vergaß sie ihre Schmerzen, legte ihn auf den Ziegelboden und stand auf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Brunnenwände waren feucht, und das üppig wuchernde Moos schien neues Leben zu versprechen. Aber es stillte ihren Durst nicht, war nicht essbar. Sie hockte sich auf den Boden und hob einen Ziegel nach dem anderen hoch. Sie waren schwer, als hätten sie sich im Lauf der Jahre mit Wasser vollgesogen. Aus seiner Höhle unter dem Stein kroch ein leuchtendroter Tausendfüßler. Mutter sprang erschreckt zurück, aber ihre Augen blieben an dem kleinen Tausendfüßler hängen, der auf zwei glänzenden Beinreihen über die Kröte hinwegkletterte und in einer Mauerritze verschwand. Mutter traute sich nicht, weitere Ziegel aufzuheben. Und sie wagte es nicht, sich zu setzen, denn das schreckliche Ereignis vom vergangenen Morgen hatte ihr bewusst gemacht, dass sie jetzt eine Frau war.
Als ich verheiratet war, hat meine Mutter meiner Frau erzählt, dass sie in dem feuchten, dunklen Brunnen ihre erste Periode gehabt hatte. Meine Frau hat es mir später erzählt, und wir empfanden großes Mitleid mit dem fünfzehnjährigen
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