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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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los, ihr Hurensöhne !» riefen sie.
    Die beiden Wächter hielten sich an ihren Maschinenpistolen fest und tauschten besorgte Blicke aus. Sie wussten nicht, was sie tun sollten.
    «Wenn eure Väter Chinesen waren, bindet uns los. Wenn ihr japanische Teufel seid, bringt uns um!»
    Die Wächter rannten zum Waffenlager und nahmen zwei Säbel, mit denen sie die Stricke der Gefangenen durchschnitten.
    Wie besessen stürzten sich die achtzig Mann auf den Haufen von Gewehren und Handgranaten. Dann kümmerten sie sich nicht mehr um das taube Gefühl in ihren Armen und den Hunger in ihren Mägen, sondern griffen wild brüllend die Japaner an. Sie liefen direkt in einen Hagel von Blei.
    Innerhalb einer Viertelstunde nach der ersten Handgranatensalve der Soldaten des Jiao-Gao-Regiments und der Eisengesellschaft stiegen Dutzende von Rauchsäulen über der Dorfmauer auf.

Fünftes Kapitel
 
Seltsamer Tod
     
     
1
     
    Die vollen purpurfarbenen Weintraubenlippen, wie man sie so häufig bei dunkelhäutigen Frauen findet, waren es, die den besonderen Reiz meiner Zweiten Großmutter - Lian’ers - ausmachten. Ihre Herkunft und ihre Geschichte lagen seit langem vergraben im Sand der Zeit. Feuchte gelbe Erde bedeckte ihr üppig festes jugendliches Fleisch, ihr rundliches Gesicht, das einer Bohnenhülse glich, und die tiefblau strahlenden Augen, die den Tod nicht zu kennen schienen. Auf ewig war der zornige, wütende Rebellenblick erstorben, der die Welt des Schmutzes herausforderte, die Welt der Schönheit anbetete und überquoll von intensivem Erleben. Meine Zweite Großmutter wurde in der schwarzen Erde in einem Sarg aus dünnem Weidenholz beerdigt. Der rissige rotbraune Lack konnte das wurmstichige, von Insekten zerfressene Holz nicht verbergen. Der Anblick ihrer geschwärzten glänzenden Leiche, die von der goldenen Erde verschlungen wird, hat sich meinem Geist für immer eingeprägt und ist meinem Bewusstsein unauslöschlich eingegraben.
    Ich sah, wie sich unter warmen roten Sonnenstrahlen ein Grabhügel in Menschengestalt über der schweren trauernden Sandbank erhob. Die anmutige Figur meiner Zweiten Großmutter, ihre hochgewölbten Brüste, kleine Sandkörner, die über ihre harte, ungleichmäßige Stirn glitten, ihre sinnlichen Lippen, die den goldgelben Sand durchbrachen, als wollten sie den kühnen Geist der Wahrheitssuche beschwören, der unter edlem Tuch verborgen war: Ich wusste, dass das alles Illusion war, dass meine Zweite Großmutter unter der schwarzen Erde ihrer Heimat begraben lag und dass an ihrem Grab nur rote Hirse wuchs.
    Wenn man vor ihrem Grab steht, kann man - außer im Winter, wenn die Pflanzen erfroren und tot sind, oder im Frühling, wenn eine kühle Brise von Süden weht - hinter dem alptraumhaft dicken Vorhang der Hirse von Nordost-Gaomi nicht einmal den Horizont ausmachen und kommt sich unglaublich kurzsichtig vor. Hebe ich dann mein hageres Gesicht wie eine Sonnenblume, entdecke ich hinter den Lücken im Hirsevorhang das erschreckende Strahlen der Sonne im Königreich des Himmels. Unter dem ewig klagenden Seufzen des Schwarzwasserflusses vernehme ich die schreckliche Musik, die der Himmel den verlorenen Seelen singt.
     
     
2
     
    Der Himmel war klar und blau. Die Sonne hatte sich noch nicht gezeigt, aber den wirren Horizont umstrahlte an diesem frühen Wintermorgen blendendrotes Licht. Der alte Geng schoss auf einen Fuchs mit feurigrotem Schwanz. Der alte Geng war der beste Jäger an der Salzwassermündung. Er jagte Wildgänse, Hasen, Wildenten, Wiesel, Füchse und, wenn es sonst nichts zu jagen gab, Spatzen. Im Spätherbst und im Frühwinter flogen gewaltige Spatzenschwärme wie eine wirre braune Wolke, die über das endlose Land hinzieht, über die Gemeinde Nordost-Gaomi. Im Abenddämmern fielen sie ins Dorf ein und ließen sich auf den fast kahlen Weiden nieder, deren nackte gelbe Zweige sich zum Himmel reckten oder zur Erde herabhingen. Wenn die letzten roten Strahlen der Abendsonne die Wolken durchdrangen, leuchteten die Bäume, und die schwarzen Augen der Spatzen glänzten auf den Zweigen wie Tausende von goldenen Funken. Ruhelos flatterten sie umher und verwandelten die Baumkronen in einen kreisenden Strudel. Der alte Geng griff zur Flinte, blickte durch das dreieckige Visier und drückte auf den Abzug. Wie Hagelkörner fielen Spatzen zu Boden, als die Schrotkugeln lärmend durch die Zweige jagten. Die unverletzten Spatzen überdachten kurz die Situation, und wenn sie sahen, wie ihre

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