Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
gewusst, dass Geng hinter dem Damm versteckt war, und war dennoch über das Eis geschlendert, als wolle er ihn auf die Probe stellen. Er hatte die Prüfung bestanden, aber jetzt hatte er seinen Freund verraten. Mit gesenktem Kopf stand er vor dem Ried, hinter dem der Fuchs verschwunden war, und sah sich nicht einmal um, als er hinter sich Schritte hörte.
    Plötzlich verspürte er einen kalten, scharfen Schmerz, der von einem Punkt genau über seinem Gürtel aus über den ganzen Oberkörper aufstieg. Er taumelte nach vorn, sein Körper verkrampfte sich, und die Flinte fiel aufs Eis. Etwas Heißes wand sich unter der Gürtellinie in seinen gefütterten Hosen. Etwa ein Dutzend Gestalten in Khakiuniformen mit Gewehren und glänzenden Bajonetten stürzten sich auf ihn. Erschreckt und ohne nachzudenken brüllte er: «Japan!»
    Die Japaner stürzten sich auf ihn und stießen ihre Bajonette in seinen Brustkorb und seinen Unterleib. Er heulte mitleiderregend wie ein Fuchs, der nach der Füchsin ruft, bevor er kopfüber auf das Eis fiel. Das Eis krachte und sprang. Das Blut aus seinen Wunden brachte das Eis unter ihm zum Schmelzen. Betäubt, wie er war, fühlte er doch, dass sein Oberkörper brannte, als werde er am Spieß gebraten, und riss sich mit beiden Händen das zerfetzte Hemd vom Leib.
    Fast bewusstlos sah er, wie der buschige rote Fuchs aus dem Sumpfgras auftauchte, ihn einmal umkreiste, sich dann auf den Hinterpfoten niederließ und ihn mitleidig anblickte. Sein Fell glänzte strahlend hell, seine schrägen Augen glühten wie Smaragde. Nach einiger Zeit spürte Geng, wie sich warmes Fell an seinem Körper rieb, und wartete darauf, dass ihn messerscharfe Zähne zerreißen würden. Er wusste, dass ein Mann, der Vertrauen verrät, das man ihm geschenkt hat, weniger wert ist als ein Tier, und wenn die scharfen Zähne ihn in Fetzen rissen, war er bereit zu sterben, ohne zu klagen.
    Der Fuchs begann, mit seiner kalten Zunge die Wunden des alten Geng zu lecken.
    Der alte Geng schwor, der Fuchs habe ihm den Verrat gedankt, indem er ihm das Leben rettete. Wo sonst auf der Welt gab es einen Mann, den achtzehn Bajonettstiche getroffen hatten und der noch davon erzählen konnte? Auf der Fuchszunge muss ein wunderbares Heilmittel gelegen haben, denn alle Stellen, die sie berührte, waren sofort schmerzfrei, als habe man sie mit Pfefferminzöl eingerieben. Das behauptete wenigstens der alte Geng.
     
     
3
     
    Dorfbewohner, die in die Stadt gegangen waren, um Strohsandalen zu verkaufen, brachten die Nachricht : Die Japaner haben Gaomi besetzt, über dem Stadttor weht die aufgehende Sonne. Die erschreckten Bauern konnten nur hilflos auf die Katastrophe warten, von deren Unabwendbarkeit sie wussten. Aber nicht alle litten unter Herzklopfen und Gänsehaut. Zwei unter ihnen betrieben vollkommen unberührt ihre Geschäfte weiter. Wer waren die beiden Stoiker? Der eine war der eben erwähnte Jäger, der alte Geng, der andere war der alte Cheng Mazi, ein pensionierter Musiker, der mit Begeisterung Opernmelodien sang.
    «Wovor habt ihr Angst?» fragte Cheng jeden, den er traf. «Wir sind die einfachen Leute, egal, wer da oben regiert. Wir verweigern der Regierung ihr Getreide nicht und zahlen pünktlich unsere Steuern. Wir legen uns auf den Boden, wenn man es uns befiehlt, und wir knien nieder, wenn sie es so wollen. Wer darf uns also bestrafen? Ich frage euch, wer darf uns bestrafen?»
    Seine weisen Ratschläge wirkten auf viele beruhigend, und sie begannen wieder zu schlafen, zu essen und zu arbeiten. Aber es dauerte nicht lange, bis die zerstörerischen Kräfte der japanischen Barbarei auch sie erfassten. Die Japaner bauten Kasernen und mordeten Menschen; sie fütterten Schäferhunde mit Menschenherzen; sie vergewaltigten sechzigjährige Frauen; sie schmückten die Leitungsmasten in der Stadt mit menschlichen Köpfen. Auch wenn die Dorfbewohner sich bemühten, den unerschütterlichen Vorbildern des alten Geng und Cheng Mazis zu folgen - sie schafften es nicht: Die Berichte über japanische Gräueltaten ließen sie selbst im Schlaf nicht mehr los.
    Cheng Mazi wirkte die ganze Zeit über glücklich und zufrieden. Das Gerücht, dass die Japaner im Anmarsch waren und das Dorf plündern würden, hatte zur Folge, dass die verfügbare Menge an Hundescheiße im Dorf und seiner Umgebung enorm zunahm. Anscheinend hatten die Bauern, die sich sonst darum stritten, keine Lust mehr, ihre Ansprüche anzumelden, denn jetzt lag die Scheiße einfach

Weitere Kostenlose Bücher