Das Rote Kornfeld
Mutter - nein, eher an den Mutterleib. Im Mutterleib hielt er die Augen geschlossen, schwamm in vollkommener Freiheit und brauchte sich keine Gedanken um Essen, um Kleidung, um irgend etwas zu machen. Zum zweiten Mal sorgenfrei im Mutterleib, war er unbeschreiblich glücklich. Er spürte weder Hunger noch Kälte, nur noch überwältigende Freude.
Mit dem gedämpften Hundegebell aus dem Dorf erwachte die vage Erkenntnis, dass er den Leib seiner Mutter schon vor langer Zeit verlassen hatte und in die wirkliche Welt hinausgezogen war. Die goldenen Lichtstrahlen aus den Fenstern der Kommune und die feuerroten Blüten am Haus des Zweigsekretärs erleuchteten die Welt wie lodernde Flammen, und ihr Licht blendete ihn. Schneeflocken tanzten und knisterten wie Blattgold und Silberfolie, und die Familien im Dorf sandten den Küchengott auf seinem Papierpferd in den Himmel. Unter all dem Licht, das auf ihn fiel, fühlte sich sein Körper brennendheiß und trocken an. Schnell zog er die Jacke aus: heiß. Dann zog er seine gefütterten Hosen aus: heiß. Er zog die warmen Schuhe aus: heiß. Er zog die Filzmütze aus: heiß. Nackt wie aus dem Mutterleib: heiß. Er legte sich in den Schnee: heiß, so schrecklich heiß. Er stopfte sich Schnee in den Mund. Der Schnee brannte in seiner Kehle wie sonnenheiße Kieselsteine: heiß! So schrecklich heiß! Er erhob sich aus dem Schnee und griff nach den metallenen Gitterstangen, aber sie waren so heiß, dass sie seine Handflächen versengten und Fell ausschwitzen ließen. Seine Hände klebten am Zaun, und er konnte sie nicht mehr losreißen. Die letzten Worte, die er in die Luft zu schreien versuchte, waren : Heiß ! So schrecklich heiß !
Der junge Mann mit den Füllfederhaltern trat früh am nächsten Morgen zum Schneeschaufeln vors Tor. Als er lässig den Kopf hob und Ausschau hielt, wurde sein Gesicht blass vor Furcht. Er sah den alten Mann vom Vorabend, der sich Geng mit den Achtzehn Stichen genannt hatte. Splitternackt hing er mit den Händen am Tor wie der gekreuzigte Jesus. Das Gesicht des alten Mannes hatte sich dunkelviolett verfärbt, die Gliedmaßen waren ausgestreckt, die starren Augen auf die Gebäude der Kommune gerichtet. Auf den ersten Blick hätte niemand geglaubt, dass es nur ein einsamer alter Mann war, der verhungert war.
Sorgfältig zählte der junge Mann die Narben auf dem Körper des alten Mannes. Es waren genau achtzehn, nicht mehr, nicht weniger.
8
Nachdem er ihnen alle Sandalenwerkstätten im Dorf gezeigt hatte, ließen die Japaner Cheng Mazi endlich frei. Die Werkstätten hatten sie in die Luft gesprengt. Der Mann mit der kastanienfarbigen Mütze fragte: «Sind das alle, oder gibt es noch welche?»
«Nein», sagte er entschieden, «das waren wirklich alle.»
Der mit der Kastanienmütze sah einen der Japaner an. Der Japaner nickte. «Verschwinde, aber schnell!»» sagte der mit der Kastanienmütze. Weit vornübergebeugt verneigte Cheng sich ein paar Mal, ging ein paar Schritte rückwärts, drehte sich um und wollte sich davonmachen, so schnell ihn die Beine trugen. Aber die waren weich wie Gummi, und sein Herz schlug so laut, dass er wie angefroren stehenblieb. Die Bajonettwunde in seiner Brust brannte heiß, der Kot in seiner Hose war klebrig und kalt. Er lehnte sich an einen Baum, um Atem zu schöpfen, und hörte aus den Häusern um sich herum das Heulen und Schreien der Totengeister. Die Beine wollten ihn nicht mehr tragen, er glitt zur Erde und kratzte auf seinem Weg nach unten mit dem Rücken über die trockene, spröde Baumrinde. Rauchwolken standen am Himmel über dem Dorf: die Spuren explodierender Handgranaten.
Die Japaner warfen Hunderte von schwarzen Eierhandgranaten durch die Dachfenster und Türen der Sandalenwerkstätten. Dann bildeten sie einen Kreis um jede Werkstatt und blieben mit unbeteiligter Miene stehen, wenn gedämpfte Explosionen die Häuser erschütterten und die Erde erzittern ließen. Aus den Fenstern drangen dichter Rauch und die mitleiderregenden Schreie der Überlebenden. Die japanischen Soldaten verstopften die Fensterhöhlen mit Stroh, und die Schreie von drinnen waren so gedämpft, dass man sich anstrengen musste, sie zu hören. Er zeigte den Japanern den Weg, und sie sprengten zwölf Werkstätten. Er wusste, dass drei Viertel der Männer im Dorf in den Werkstätten arbeiteten, wo man Strohsandalen herstellte, und dass sie auch dort schliefen, so dass es wohl kaum Überlebende geben würde. Plötzlich wurde ihm
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