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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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ergraute. Ängstlich und beklommen schlich er sich heran und stieß ihn in die Seite.
    «Vater»», fragte er, «Vater, was hast du?»»
    Tränen strömten über Großvaters Gesicht, und aus seiner Kehle quollen gurgelnde Laute. Das japanische Maschinengewehr, das ihnen Zugführer Leng so großzügig überlassen hatte, lag zusammengekauert wie ein Wolf zu seinen Füßen. Die offene Mündung sah aus wie ein Hundeauge.
    «Sag doch was, Vater! Iß Handkuchen und trink einen Schluck Wasser. Wenn du nichts isst und nichts trinkst, wirst du sterben.»
    Großvater beugte den Kopf vor, bis er auf dem Brustkorb lag. Der Körper schien nicht stark genug, das Gewicht des Kopfes zu tragen, und schrumpfte förmlich zusammen. Großvater hielt den Kopf zwischen den Händen und stöhnte. Dann blickte er schluchzend auf: «Douguan, mein Sohn, ist es vorbei mit uns?»
    Mit ängstlich aufgerissenen Augen starrte Vater seinen Vater an. Der harte Blick seiner diamantklaren Pupillen entsprang dem furchtlosen, ungezügelten, heroischen Geist meiner Großmutter. Als Lichtstrahl durchbrach er das Reich der Finsternis und erleuchtete Großvaters Herz.
    «Vater»», sagte mein Vater, «gib nicht auf. Ich werde Pistolenschießen üben wie damals, als du auf Fische in der Bucht geschossen und die Fähigkeit der Sieben Pflaumenblüten erworben hast. Dann werden wir unsere Rechnung mit dem pockennarbigen Schwein von Leng begleichen.»»
    Großvater sprang auf und brüllte dreimal wie ein Stier. Halb war es Wehklage, halb irres Gelächter. Ein feiner Faden von dunklem purpurrotem Blut kroch zwischen seinen Lippen hervor.
    «Du sagst es, Sohn! So ist es richtig.»»
    Er bückte sich und hob einen von Großmutters Handkuchen von der dunklen Erde, biss ein Stück ab und schluckte es herunter. Kuchenkrümel und kleine Bluttropfen klebten an seinen verfärbten Zähnen. Vater hörte Großvaters Schmerzensschreie, als ihm der trockene Handkuchen im Halse steckenblieb, und er sah, wie die rauhen Kanten langsam durch die Speiseröhre glitten.
    «Vater»», sagte mein Vater, «geh zum Fluss und trink Wasser, damit der Kuchen in deinem Magen feucht wird.»»
    Großvater taumelte die Böschung hinunter und ließ sich auf Händen und Knien am Uferrand nieder. Er streckte den Hals vor und trank wie ein Maultier oder ein Pferd. Als er sich satt getrunken hatte, ließ er die Arme sinken und tauchte Kopf und Nacken ins Wasser. Bunte kleine Schaumkronen stiegen auf, als das Wasser sich an dem Hindernis brach. Er hielt den Kopf eine halbe Pfeifenlänge unter Wasser. Beim Anblick seines Vaters, der wie ein bronzefarbener Frosch am Ufer kauerte, wurde Vater allmählich nervös. Schließlich zog Großvater den tropfnassen Kopf aus dem Wasser, holte tief Luft, richtete sich auf und stieg wieder die Böschung hinauf. Vater starrte gebannt auf das Wasser, das über Großvaters Gesicht strömte. Der schüttelte den Kopf und schleuderte neunundvierzig große und kleine Wassertropfen wie Perlen in die Luft.
    «Douguan»», sagte er dann, «wir wollen sehen, wie es den Männern geht.»»
    Dicht von Vater gefolgt, taumelte er benommen durch das Hirsefeld westlich der Straße. Sie stolperten über niedergetrampelte Hirsepflanzen und leere Patronenhülsen, die schwach gelblich glänzten. Immer wieder mussten sie sich bücken, um die Leichen ihrer gefallenen Kameraden anzusehen, die mit verzerrten Gesichtern unter der Hirse lagen. Großvater und Vater schüttelten sie in der Hoffnung, noch einen von ihnen am Leben zu finden, aber sie waren alle tot. Klebriges Blut bedeckte ihre Hände. Vater betrachtete zwei der Männer, die am Westrand des Feldes lagen. Der eine hatte den Gewehrlauf im Mund. Sein Nacken war ein Gewebe von Blut und Eiter, wie ein verfaultes Wespennest. Der andere lag über dem Bajonett, das in seinem Brustkorb steckte. Großvater drehte die beiden Männer um, und Vater sah ihre gebrochenen Beine und ihre aufgeschlitzten Bäuche. Seufzend zog Großvater das Gewehr aus dem Mund des einen, das Bajonett aus der Brust des anderen seiner Männer.
    Vater folgte Großvater ins östliche Hirsefeld, über die Straße, die hell unter dem verhangenen Himmel lag. Auch diese Seite hatte unter Beschuss von Maschinengewehren gestanden. Sie drehten die Leichen der Soldaten, die überall auf der Erde verstreut lagen, auf den Rücken. Hornist Liu kniete, das Signalhorn in der Hand, im Feld, als wolle er zum Angriff blasen. «Hornist Liu!»» rief Großvater ihn an. Keine Antwort.

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