Das Rote Kornfeld
rote Wolken am Himmel. Im Vorübergehen warf sie einen Blick auf die Leiche des Straßenräubers. Fäulnis und Schmutz war alles, was sich ihrem Auge bot. Millionen fetter Maden hatten ihn aufgefressen, nur ein paar faulende Fleischfetzen hingen noch an den Knochen.
Nachdem sie einander am Krötenloch vorbeigezerrt hatten, stieg Großmutter wieder auf den Esel. Der Geruch von Hirsebranntwein, den der Nordostwind mit sich trug, wurde immer stärker. Sie nahm allen Mut zusammen, aber je näher sie dem Ort des Dramas kam, desto mehr überwältigten sie Furcht und schreckliche Ahnungen. Die Erde dampfte in der Sonnenglut, doch Großmutter liefen kalte Schauer über den Rücken. Das Dorf der Familie Shan war noch weit, aber es schien ihr, als gefriere ihr Rückenmark im immer intensiver werdenden Geruch von Hirsebrand zu Eis. Rechts von ihr im Feld begann ein Mann laut zu singen.
Kleine Schwester, wie mutig ziehst du dahin,
Stark wie Eisen ist dein Kinn,
Hart wie Bronze deine Knochen.
Hoch vom bunt geschmückten Turm Wirfst du den bestickten Ball.
Er trifft mich hart am Kopf.
Trink mit mir vom Hirsebrand.
«He, du da, Opernsänger, lass dich blicken. Du singst ja grauenhaft»», rief Urgroßvater ins Hirsefeld.
3
Vater stand im verdorrten Gras, das die Abendsonne blutrot färbte, und aß seinen Handkuchen. Dann stieg er über die überwucherte, schwammig weiche Böschung zum Flussufer hinab. Auf der Steinbrücke über dem Schwarzwasserfluß lag der erste Lastwagen mit platten Reifen, dahinter die drei anderen. Stoßstangen und Seitenwände waren mit dunklem Blut und hellgrüner Gehirnmasse bespritzt. Die obere Körperhälfte eines Japaners hing an der Seitenplanke; der Stahlhelm baumelte am Riemen von seinem Kopf. Aus der Nase tröpfelte dunkles Blut in den Helm. Das Wasser im Flussbett seufzte. Die reife Hirse knisterte in der Sonnenglut. Kleine Wellen glitzerten unter den schweren, dumpfen Sonnenstrahlen. Herbstinsekten sangen im Schlamm unter den Wasserpflanzen ihr Klagelied. Die Flammen in den letzten beiden Lastwagen waren dabei, sich selbst zu verzehren, und die rauchgeschwärzten Karosserien zersprangen laut krachend.
Misstönende Klänge und wirre Farben umgaben Vater, der gebannt auf das Blut starrte, das aus der Nase des Japaners in den Stahlhelm tröpfelte. Tropfen für Tropfen plätscherte in die blutige Pfütze und ließ an der Oberfläche kleine Kreise aufwallen. Vater war gerade vierzehn Jahre alt. Es war der neunte Tag des achten Monats nach dem alten Kalender im Jahre 1939, und die verlöschende Glut der untergehenden Sonne bedeckte die Erde mit einem roten Leichentuch. Vaters Gesicht war von den Anspannungen des Tages erschöpft und mit einer purpurfarbenen Schlammschicht bedeckt. Er kauerte weiter flussaufwärts neben der Leiche von Wang Wenyis Frau auf dem Boden und schöpfte mit beiden Händen Wasser. Klebrig und dicklich fiel das Wasser lautlos zwischen seinen Fingern hindurch zur Erde. Es berührte seine aufgesprungenen Lippen schmerzhaft, und salziger Blutgeschmack trat zwischen seine Zähne und glitt in den Hals hinab. Als das warme Flusswasser seine ausgetrocknete Kehle hinunter glitt, verspürte er einen befriedigenden Schmerz, und auch wenn ihm der salzige Blutgeschmack den Magen umdrehte, schöpfte er eine Handvoll nach der andern. Er trank gierig, bis der trockene, zerbröckelte Handkuchen in seinem Magen sich vollgesogen hatte. Dann richtete er sich auf und schnappte erleichtert nach Luft.
Jetzt war es endgültig Nacht. Ein letzter roter Widerschein färbte den Rand der Himmelskuppel. Der ätzende Gestank der brennenden Karosserien ließ nach. Ein lauter Knall ließ Vater aufschrecken. Er hob den Kopf gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Fetzen eines geplatzten Reifens langsam wie schwarze Schmetterlinge im Fluss versanken und zahllose japanische Reiskörner, manche weiß, manche schwarz gebrannt, aufstoben und sich dann als Hagelschauer über dem Wasser ergossen. Er wandte den Blick, und seine Augen blieben an der kleinen Gestalt von Wang Wenyis Frau hängen, die tot am Ufer lag. Das Blut aus ihren Wunden färbte das Wasser rot. Er kletterte die Böschung hoch und rief:
«Vater!»
Großvater stand auf der Böschung. Sein Gesicht war von den Anstrengungen der Schlacht ausgemergelt, und unter der wettergegerbten dunklen Haut standen die Knochen vor. Im Schein der letzten Sonnenstrahlen sah Vater, dass das kurz geschorene Haar auf Großvaters Kopf langsam
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