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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Zeit eines Lidschlags geschehen.
    Vater erinnerte sich, wie seine Mutter ihn zum Rand des nebelverhüllten Dorfes gebracht hatte. Die Szene schien weit entfernt und stand ihm doch ganz nah vor Augen. Er erinnerte sich an den beschwerlichen Marsch durch die Hirsefelder, an Wang Wenyi, den ein versehentlicher Schuss am Ohr verwundet hatte, an die fünfzig Soldaten, die bei ihrem Anmarsch auf die Brücke wie eine dunkle Linie von Ziegenkot ausgesehen hatten. Dann der scharfe Dolch des Stummen, die finsteren Augen, der Kopf des Japaners, der durch die Luft flog, der runzlige Hintern des alten Japaners, Mutter, die über die Böschung schwebte, als flöge sie auf Phönixflügeln, die Handkuchen, die zu Boden rollten, fallende, brechende Hirsepflanzen, rote Hirse, die zu Boden sank wie sterbende Helden ...
    Vater war im Stehen eingeschlafen, und Großvater nahm ihn auf den Rücken. Der Revolver in seinem Gürtel schlug ihm ins Kreuz. Scharfe Schmerzen drangen bis zum Herzen vor. Es war der Revolver, der einst dem dunklen, hageren, gebildeten, gutaussehenden Adjutanten Ren gehört hatte. Es war der Revolver, der Adjutant Ren, Fang Sieben und Schwindsucht Vier getötet hatte. Einen Augenblick dachte er daran, diese abscheuliche Waffe in den Fluten des Schwarzwasserflusses zu versenken. Aber das war nur ein flüchtiger Gedanke. Er beugte sich vor, ließ seinen schlafenden Sohn auf seinem Rücken weiter nach oben gleiten und versuchte, den stechenden Schmerz in seinem Herzen zu vergessen.
    Großvater spürte nicht mehr, wie sich seine Beine bewegten, und das einzige, was ihn weitermarschieren ließ, war der Drang, den Kampf gegen immer dunklere, immer schwerere Luftwogen nicht aufzugeben. Benommen hörte er das laute Getöse, das ihm wie eine Flutwelle entgegenkam. Er hob den Kopf und sah den Feuerdrachen, der sich die Böschung entlangschlängelte. Mit starren Augen blickte er auf ein Bild, das verschwamm, deutlicher wurde, wieder verschwamm. Manchmal konnte er Fänge und Klauen des Drachen sehen, der über die Wolken ritt und durch den Nebel schwamm. Die goldenen Schuppen klirrten im Flug, der Wind heulte, Regenwolken zischten und dampften, Donner grollte, und all die verschiedenen Geräusche vereinten sich zu einem Sturm von Männlichkeit, der über die zusammengekauerte weibliche Welt dahinraste.
    Als sein Blick sich klärte, konnte er die neunundneunzig Fackeln erkennen, die ihm über den Häuptern Hunderter von Menschen entgegenkamen. Die tanzenden Flammen erleuchteten an beiden Ufern des Flusses die Hirse. Der Schein der vorderen Fackeln fiel auf die Menschen, die weiter hinten gingen, und die hinteren Fackeln erleuchteten die vorderen Reihen. Großvater ließ Vater von seinem Rücken gleiten und schüttelte ihn kräftig.
    «Douguan»», rief er ihm ins Ohr, «wach auf, Douguan! Wach auf, mein Sohn. Sie kommen uns holen, sie kommen.»»
    Vater hörte, wie heiser Großvaters Stimme klang, und sah zwei Tränen aus seinen Augen rollen.
     
     
4
     
    Als Großvater Shan Tingxiu und seinen Sohn umbrachte, war er gerade vierundzwanzig Jahre alt. Auch wenn Großmutter und er schon zuvor im Hirsefeld den Phönixtanz getanzt hatten, auch wenn sie im feierlichen Rhythmus von Leid und Ekstase meinen Vater empfangen hatte, dessen Leben sich aus Verdienst und Schuld zusammensetzen sollte (galt er doch schließlich als einer der bedeutendsten Vertreter seiner Generation in der Gemeinde Nordost-Gaomi), so war Großmutter doch durch gesetzliche Eheschließung zum Mitglied der Familie Shan geworden. So waren mein Großvater und meine Großmutter Ehebrecher, und ihre Verbindung war gezeichnet von Spontaneität, Zufall und mangelnder Dauerhaftigkeit. Weil aber mein Vater damals noch nicht auf der Welt war, sollte ich der Genauigkeit halber meinen Großvater nicht Großvater, sondern Yu Zhan’ao nennen, wenn von dieser Zeit die Rede ist.
    Als Großmutter voll Schmerz und Verzweiflung Yu Zhan’ao erzählte, ihr Ehemann habe die Lepra, köpfte er mit seinem kurzen Schwert zwei Hirsestauden. Dann beschwor er sie, sich keine Sorgen zu machen, und nahm ihr das Versprechen ab, in drei Tagen wieder zurückzukommen. Von den Fluten der Leidenschaft überwältigt, dachte sie nicht darüber nach, was das wohl bedeuten solle. Aber er trug sich schon mit Mordgedanken. Er blickte ihr nach, als sie sich ihren Weg durch die Hirse bahnte, ihren klugen kleinen Esel rief und Urgroßvater mit dem Fuß anstieß. Der schlammverkrustete Haufen, der mein

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