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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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konnte sie sich selbst so stählen, dass sie im Anblick der Gefahr ihre Ängste überwinden und als Heldin handeln konnte?
    Großmutter weinte lange, ohne wirkliche Trauer zu empfinden. Was sie empfand, war eher das befreiende Gefühl, den Kummer ihres Herzens von sich zu werfen. Unter Tränen erlebte sie noch einmal die Freuden und das Glück, den Schmerz und das Leiden ihrer Vergangenheit. Der Klang ihres Weinens schien nicht aus ihrem Mund zu kommen, sondern als sanfte Hintergrundmusik die schönen und die abstoßenden Bilder zu begleiten, die vor ihr vorüberzogen. Schließlich sagte sie sich, dass das Leben des Menschen so flüchtig ist wie Herbstgras; was also hatte sie zu befürchten?
    «Es ist Zeit zu gehen, kleine Neun»», sagte Urgroßvater, der plötzlich wieder ihren Kindheitsnamen benutzte.
    Gehen, gehen, gehen? Wohin?
    Großmutter ließ sich ein Wasserbecken bringen und wusch sich das Gesicht. Dann legte sie Puder und Rouge auf. Sie blickte in den Spiegel, nahm das Haarnetz ab und ließ das lange, in weichen Wellen dahinfließende Haar frei. Samtglänzend fiel es über den Rücken der jungen Frau, die auf dem gemauerten Bett stand, und glitt bis zu den Schenkeln hinab. Mit der Linken zog sie ihr Haar über die Schulter und kämmte es vor ihrer Brust mit dem Birnenholzkamm in ihrer Rechten. Meine Großmutter hatte dichtes, schwarzglänzendes Haar, das sich zu den Haarspitzen hin leicht verdünnte. Als es glattgekämmt war, drehte sie es mit festem Griff zu großen schwarzen Blüten, die sie mit vier silbernen Kämmen feststeckte. Dann kämmte sie die Ponyfransen, die genau über den Augen endeten. Sie band sich die Füße, zog ein Paar weiße Baumwollstrümpfe darüber, schnürte die Umschläge ihrer Hosen fest und schlüpfte in ein Paar bestickte Pantoffeln, die ihre Füße noch winziger machten.
    Es waren Großmutters kleine Füße gewesen, die Shan Tingxius Aufmerksamkeit als erstes erregt hatten, und ihre kleinen Füße hatten die Leidenschaft des Sänftenträgers Yu Zhan’ao entfesselt. Selbst eine alte Hexe mit pockennarbigem Gesicht kann mit Heirat rechnen, wenn sie kleine gebundene Füße hat. Niemand will ein Mädchen mit großen ungebundenen Füßen, selbst wenn sie das Gesicht eines Engels hätte. Großmutter, die gebundene Füße und ein liebliches Gesicht hatte, war eine der Schönheiten ihrer Zeit. Im Verlauf unserer langen Geschichte sind die Füße der chinesischen Frauen sozusagen zu sekundären Geschlechtsorganen geworden, und Männer haben einen ästhetischen Gefallen daran gefunden, der ihre sexuellen Begierden erweckte, wenn sie diese zarten, spitzen Glieder nur erspähten.
    Jetzt war sie fertig und verließ mit kleinen, zart klappernden Schritten das Haus. Man hatte eine Decke über den Rücken des kleinen Familienesels gelegt, in dessen glänzenden Augen sich Großmutters zarte Gestalt spiegelte. Nur in diesen feuchten Augen, die sie unverwandt anblickten, glaubte sie einen Funken von Mitgefühl zu entdecken. Sie warf ein Bein über den Rücken des Tiers und stieg auf. Anders als andere Frauen ritt sie nicht im Damensitz. Urgroßmutter ermahnte sie, in sittsamerer Haltung zu reiten, aber sie stieß dem Esel die Fersen in die Seiten, und er machte sich auf den Weg. Stolz und aufrecht, die Augen geradeaus gerichtet, saß Großmutter auf seinem Rücken.
    Einmal unterwegs, warf Großmutter keinen Blick mehr zurück. Hatte Urgroßvater anfangs den Esel geführt, so nahm sie ihm die Zügel ab, sobald sie das Dorf verlassen hatte, und ließ ihn hinterherlaufen.
    Während der drei Tage, die sie zu Hause verbracht hatte, war wieder ein Gewitter ausgebrochen, und Großmutter sah einen mühlsteingroßen Flecken im Hirsefeld, der sich in totem Weiß vom umgebenden Grün abhob, einen Flecken, an dem die Blätter verdorrt und ausgetrocknet zur Erde hingen. Sie erinnerte sich an den Blitzschlag, der vor einem Jahr ihre Freundin Qian’er, ein hübsches Mädchen von siebzehn Jahren, getroffen hatte. Der Blitz hatte ihre Haare auflodern lassen und ihre Kleider zu Asche verbrannt. In ihren Rücken war ein Muster eingesengt, in dem einige Leute die Kaulquappenschrift des Himmels erkennen wollten.
    Es ging das Gerücht um, Qian’ers Tod sei die Strafe für ihren Geiz gewesen. Sie sei am Tod eines ausgesetzten Säuglings schuld. Die Leute erzählten in allen abscheulichen Einzelheiten, wie sie auf dem Weg zum Markt das Wimmern des Kindes am Straßenrand gehört habe. Als sie nachsah und die Windeln

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