Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
Henry Dunant. In der Tat zählten Militärärzte aus Preußen (Dr. Löffler und Dr. Boeger), den Niederlanden (Dr. Basting) und anderen Staaten erneut zu den eifrigstenLobbyisten der Genfer Ideen bei der militärischen und politischen Führung ihrer Heimatstaaten. Aber auch bei den nationalen Entscheidungsträgern mussten keine großen Widerstände überwunden werden: «… die freiwilligen Helfer werden nichts kosten, man wird sie rufen und entlassen, wenn immer es beliebt»; dieses bereits auf der 2. Sitzung des Komitees vom 17. März 1863 formulierte und bis heute im Wesentlichen gültige Angebot war aus ganz pragmatischen Gründen verlockend. Von höchstem Interesse für die militärische und politische Führung war natürlich auch die Aussicht, dass in den geplanten nationalen Hilfsgesellschaften ohne jeden finanziellen und propagandistischen Einsatz von Staats wegen schon zu Friedenszeiten große Teile der Zivilbevölkerung auf den Kriegsfall vorbereitet werden könnten. Und schließlich mutete das Genfer Komitee den Militärs und Monarchen nicht zu, ihre nüchtern-realpolitische Gesinnung durch eine solche humanitärer oder gar pazifistischer Art zu ersetzen. General Dufour, der am 26. Oktober 1863 im festlichen Ambiente des Athenäums die Genfer Konferenz eröffnete, bestätigte das Vertrauen, welches auch Realpolitiker in diese neue Bewegung setzen konnten. Trotz aller Achtung und allen Mitgefühls, das die Friedensbewegung durchaus verdiene, so formulierte er, realiter sei nicht daran zu zweifeln, dass, «solange die menschlichen Leidenschaften dauern, und das wird wohl noch lange der Fall sein, es Kriege auf dieser Erde geben» werde. «Anstatt also dem Trugbild der Unterdrückung nachzujagen», so fuhr Dufour fort, «muss man, um der Menschheit wahrhaft zu nützen, darauf bedacht sein, die Furchtbarkeit ihrer Folgen möglichst zu mildern, indem man aufs kräftigste diejenigen unterstützt, welche kraft ihrer Stellung die Aufgabe haben, jenem Elend abzuhelfen; man muss ihnen die Mitwirkung der Arme verschaffen, die ihnen jetzt noch fehlen, und zwar ohne dadurch den Heeresleitungen nachteilige Hindernisse zu bereiten.» Sichtlich bemüht, diese sich den militärischen Interessen wohl doch allzu sehr anbiedernden Ausführungen seines Vorsitzenden zumindest ein wenig zu relativieren und die Brücken zur Friedensbewegung nicht völlig abzubrechen, betonte Moynier unmittelbar darauf, dass auch dasGenfer Komitee natürlich den Zustand «eines allgemeinen und ewigen Weltfriedens» herbeisehne und er hierfür langfristig «mit Hilfe des Christentums» durchaus eine gute Perspektive sehe. Dem Vorwurf derjenigen, die «zu unfruchtbaren Sentimentalitätsergüssen ihre Zuflucht nehmen», das Genfer Komitee rechtfertige den Krieg, indem es ihn als notwendiges Übel betrachte, trat Moynier energisch entgegen. Aber hier hatten die Kritiker natürlich einen wunden Punkt getroffen. Zwar war die neue humanitäre Bewegung rhetorisch dem «erhabenen Ideal des Weltfriedens» verpflichtet – so 30 Jahre später die Formulierung der Internationalen Rotkreuzkonferenz in Rom (1892). Aber weder glaubte man ernsthaft an die Verwirklichung dieses Idealzustandes, noch arbeitete man darauf hin. Die «raison d’être» der Bewegung war und ist der Krieg. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Ohne die «schreckliche Geißel des Krieges» (Rotkreuzkonferenz 1892) kein Rotes Kreuz! So ist das Verhältnis dieser humanitären Weltbewegung zum Krieg denn auch ambivalent. Man wird bis heute kein Rotkreuzdokument finden, das den Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich in Frage stellt – damit würde die Organisation in der Tat nicht nur ihre Wirkungsmöglichkeiten in der realen Welt akut gefährden, sondern letztlich auch ihre Existenzgrundlage selbst in Frage stellen.
Von der aus taktischen Gründen damals vielleicht gebotenen, heute aber doch unangemessen devot erscheinenden Position Dufours, man werde den «Heeresleitungen [keine] nachteiligen Hindernisse [bereiten]», hat sich das Rote Kreuz indes immer mehr verabschiedet. Im Laufe der vergangenen 150 Jahre hat die Rotkreuzbewegung nicht nur immer umfassendere Schutznormen zugunsten immer weiterer Opferkategorien initiiert – nach den Verwundeten insbesondere auch die Kriegsgefangenen und die Zivilbevölkerung. Auch die Soldaten (Kombattanten) selbst hat sie durch die Unterstützung allgemeiner Grundsätze für eine humanere Kriegführung («Verbot unnötiger Leiden»), aber
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