Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
nicht gelungen war, die nationalen Rotkreuzgesellschaften explizit in den Schutzbereich der Konvention einzubeziehen. Zu dieser völkerrechtlichen Aufwertung eines nichtstaatlichen Akteurs sollten die Staaten tatsächlich erst vier Jahrzehnte später bereit sein, bei der Vertragsrevision des Jahres 1906.
Bis heute bedeutsam für Rolle und Selbstverständnis des Genfer Komitees sind aber auch verschiedene Begleitumstände der Konferenz. Das Komitee übernahm (und übernimmt) die Initiative und steuert bis zu einem gewissen Grade auch die Prozesse zur institutionellen und materiellen Fortentwicklung des humanitären Projektes, ohne dabei den Staaten ihre hervorgehobene Stellung im internationalen System streitig zu machen. Es kooperiert mit den Staaten, ohne seine neutrale Stellung aufzugeben, und es nutzt schließlich alle, auch ungewöhnliche und innovative Mittel und Wege, um seine humanitäre Mission voranzutreiben – mit einem regelmäßig recht feinen Gefühl dafür, was es seinen Hauptadressaten, den Staaten, in der konkreten Situation an Zugeständnissen zumuten kann.
Schon bei der Frage des Teilnehmerkreises der Konferenz war diplomatisches Fingerspitzengefühl gefragt. In informellen Gesprächen mit der Regierung in Paris wurden insoweit Möglichkeiten und Grenzen ausgelotet: Sollte man alle deutschen Kleinstaaten einladen und/oder (nur) den Deutschen Bund? Die deutsche Frage war bereits damals kompliziert und die Kompromisslinie sah so aus, dass nach der (mangels Staatsqualität absehbaren) Absage des Deutschen Bundes selbst im Wesentlichen nur die bereits im Jahr zuvor in Genf beteiligten Regierungen eingeladen wurden. Um das deutsche Element nicht allzu übermächtig werden zu lassen, keine Zulassung monarchischer und republikanischer Zwergstaaten also! Wie sah es mit außereuropäischen Staaten aus, möglicherweise sogar solchen, die nicht dem christlichen Kulturkreis angehörten, wie die Türkei? Es wird berichtet, dass sich der französische Außenminister strikt gegen eine Einladung der südamerikanischen Republiken gewandt, gegen eine Teilnahme der Kaiserreiche Mexiko und Brasilien aber nichts einzuwenden hatte. Tatsächlich ist nur an diese beiden Staaten eine Einladung ergangen. Eine solche erfolgte aber auch – ohne erkennbare Bedenken – an die Türkei, die, ebenso wie das ebenfalls eingeladene Russland, wohl nur aus logistischen Gründen an der zeitgerechten Entsendung eines Vertreters nach Genf gehindert wurde. Letztendlich nahmen 16 Staaten an der Konferenz teil, darunter die europäischen Groß- und Mittelmächte Baden, Belgien, Dänemark, Spanien, Frankreich, Hessen-Darmstadt, Italien, die Niederlande, Portugal, Preußen, die Schweiz, Württemberg, Großbritannien, Schweden, Sachsen sowie schließlich auch die USA. Damit hatte die Genfer Initiative schon sehr rasch den engen geographischen, aber auch kulturellen Rahmen der europäischen Staatenwelt überschritten. Obwohl damals informell bereits erwogen wurde, auch Persien und Japan einzuladen, war man vom Anspruch, geschweige denn der Realisierung umfassender Universalität allerdings noch weit entfernt.
Zu einer solchen diplomatischen Konferenz konnte zur damaligen Zeit selbstverständlich nur ein Staat einladen. Wer sollte dies sein? Dank einer geschickten Pendeldiplomatie zwischenParis und Bern, deren Erfolg durch die guten persönlichen Kontakte General Dufours sowohl zu Napoleon III. als auch zur Schweizer Bundesregierung erheblich begünstigt wurde, konnte nicht nur Einigung über den Tagungsort (erneut Genf) erzielt werden. Vielmehr gelang es dem Genfer Komitee auch, den Schweizerischen Bundesrat dazu zu bewegen, die offiziellen Einladungen auszusprechen. Ein Ereignis mit weitreichenden Folgen, wurde mit diesem Akt doch die Sonderbeziehung zwischen dem Roten Kreuz und der Schweiz endgültig besiegelt. Die Idee der Neutralität, ein besonderes Engagement in humanitären Angelegenheiten sowie nicht zuletzt eine gewisse weltanschauliche und personelle Verflechtung verbindet diese beiden Akteure bis heute. So überließ die Schweizer Regierung den Genfern nicht nur die gesamte organisatorische und inhaltliche Vorbereitung der Konferenz, einschließlich der Ausarbeitung eines Übereinkommensentwurfs. Sie bestimmte – neben dem Chefarzt ihrer Armee – auch Präsident und Vizepräsident des Genfer Komitees zu ihren offiziellen Vertretern. Mit diplomatischem Status versehen, konnten Dufour und Moynier ihre humanitäre Agenda auf der
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