Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
Konvention von 1864 auf die Seekriegsführung zu erstrecken.
Im Laufe der Zeit konnte sich das IKRK (im Verbund mit der Schweiz) gar eine Art Monopolstellung für Initiativen zur Fortentwicklung des «Genfer Rechts» erarbeiten: 1906 wurde die Genfer Konvention erstmals revidiert und neben einer inhaltlichen Ausweitung auch Funktion und Stellung der nationalen Hilfsgesellschaften völkerrechtlich anerkannt. In weiteren Etappen (1929, 1949, 1977, 2005) konnte das Genfer Recht sukzessive zu einem umfassenden Regelwerk für alle Opfergruppen (Verwundete, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung) in jeder bewaffneten Auseinandersetzung, welche die Schwelle zum Bürgerkrieg überschritten hatte, ausgebaut werden.
In späteren Jahren boten sich dem IKRK dank seiner zunehmend gefestigten Stellung im internationalen Rechtsraum sowie einer fortschreitenden Öffnung internationaler Verhandlungsprozesse für nichtstaatliche Akteure immer größere Möglichkeiten, unmittelbar Einfluss auf die Fortentwicklung des Humanitären Völkerrechts zu nehmen – und das Komitee nutzte diese Chancen zumeist auch konsequent. Inzwischen hat das Komiteeauch die Ächtung von Atomwaffen auf seine Agenda gesetzt; ein Zeichen dafür, dass man in Genf auch hochpolitische Themen und Konflikte mit mächtigen Akteuren nicht mehr scheut.
Bewährung in der humanitären Praxis. Auch was ihre praktische Tätigkeit anging, konnte die Rotkreuzbewegung für die ersten 50 Jahre ihres Bestehens eine beeindruckende Bilanz vorweisen. In den wichtigen europäischen Konflikten war das IKRK durch Delegierte präsent (u.a. Österreich – Preußen 1866; Deutschland – Frankreich 1870/71; Russland – Türkei 1877, Balkankriege 1885 und 1912/13), die nationalen Gesellschafen übernahmen ihrerseits die praktische Sanitätshilfe. Beschränkte materielle, personelle und vor allem logistische Ressourcen – möglicherweise aber auch ein gewisser Eurozentrismus – verhinderten ein energischeres Engagement des Genfer Komitees in den zahl reichen außereuropäischen Konflikten der Zeit. Immerhin mit Appellen und gelegentlich auch Geldleistungen an die nationalen Gesellschaften, die ihrerseits durchaus vor Ort aktiv waren, nahm Genf Anteil am Chinesisch-Japanischen Krieg (1894), dem Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898), dem (Zweiten) Burenkrieg (1899–1902) sowie dem Russisch-Japanischen Krieg (1904/05).
Schon 1870 wurde die Schutz- und Hilfstätigkeit mit der Einrichtung eines Korrespondenz- und Nachrichtenbüros (Basel) sowie eines «Internationalen Hilfskomitees für Kriegsgefangene» über die verwundeten und kranken Militärpersonen hinaus behutsam auf eine weitere, von Genfer Konvention und Beschlüssen eigentlich nicht erfasste Opfergruppe erweitert. Noch vor dem Ersten Weltkrieg erteilte die 9. Rotkreuzkonferenz (Washington 1912) dem IKRK dann sogar ganz explizit das Mandat, Hilfssendungen für Kriegsgefangene zu koordinieren und die Verteilung von Hilfsgütern an diese zu überwachen, eine Aufgabe, die in den großen Konflikten des 20. Jahrhunderts erhebliche Bedeutung erlangen sollte. Auch in anderer Hinsicht begann das Komitee sein Mandat bald mit gebotener Vorsicht erweiternd auszulegen. In Übereinstimmung mit anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen ging es ursprünglichganz selbstverständlich davon aus, dass sein Wirken auf zwischenstaatliche Konflikte beschränkt sein müsse und damit insbesondere Bürgerkriege nicht umfasse. Unter dem Eindruck der von der Türkei seit 1875 mit brutaler Härte niedergeschlagenen Aufstände in Bosnien und Herzegowina wurde diese rigorose Haltung dann aber rasch relativiert. Die von Moynier 1876 für diese Kehrtwende gegebene Begründung ist bemerkenswert und bis heute von unverminderter Aktualität: Die Genfer Konvention sei eben kein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag, der nur Rechte und Pflichten zwischen den Parteien begründe. Die Vertragsparteien hätten vielmehr eine Art humanitäres Glaubensbekenntnis abgelegt, welches die Staaten – konkret die Türkei – unter allen Umständen, und damit auch im Falle eines Bürgerkrieges, zu einer menschlichen Kriegführung verpflichte. Mit diesen klaren, aber ganz bewusst nicht zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion gemachten Überlegungen, war Moynier seiner Zeit weit voraus. Eine umfassende Anwendung des Genfer Rechts auch auf interne Konflikte und die damit notwendig verbundene Anerkennung von Rebellen, Separatisten, Freiheitskämpfern, Guerillakämpfern
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