Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
der Rotkreuzbewegung am Ausgang des «langen 19. Jahrhunderts» (Eric Hobsbawn) verwirrend. Auf der einen Seite vor Kraft, Selbstbewusstsein und patriotischem Optimismus strotzende nationale Gesellschaften. Auf der anderen Seite ein Internationales Komitee, dem nicht nur die Fähigkeit zur Steuerung der Rotkreuzbewegung zu entgleiten drohte, sondern dem es offensichtlich auch zunehmend schwerfiel, den gemeinsamen Geist des Projektes über Landesgrenzen hinweg sichtbar zu machen, geschweige denn wirksam zur Geltung zu bringen. Was war in den vergangenen 50 Jahren wirklich passiert?
Die Rotkreuzbewegung: Eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Fakten und Zahlen lassen keinen Zweifel. Wohl eher instinktiv hatten Henry Dunant und das Genfer Komitee mit ihrer Bewegung zielgenau den Nerv der Zeit getroffen. Nach mehr als 50-jähriger Abwesenheit war der Krieg Mitte der 1860er Jahre nach Mitteleuropa zurückgekehrt. Er traf auf ein zunehmend labiles Staatensystem, in dem sich wichtige Akteure – Deutschland, Italien, die Balkanstaaten – in konfliktträchtiger Weise als «Nationalstaaten» konstituieren bzw. konsolidieren wollten und damit das durch den Wiener Kongress (1814/15) sorgfältig austarierte europäische Mächtegleichgewicht ins Wanken brachten. Ebendiese Staaten aber waren aus sehr handfesten wirtschaftlichen, verkehrs- und kommunikationstechnischen Gründen gleichzeitig auch gezwungen, auf immer neuen Feldern dieinternationale Kooperation zu suchen. Die Errichtung der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (1816/1868), der Europäischen Donaukommission (1856), des Internationalen Telegraphenvereins (1865) sowie des Weltpostvereins (1874) sind hierfür wichtige Beispiele. Gemeinsame Interessen trotz zunehmender Entfremdung durch Nationalismus und Militarismus prägten damit eine Epoche, in der gleichzeitig eine aus Untertanenmentalität erwachte und sich nach revolutionärem Aufbegehren nun wieder mit der monarchischen Macht arrangierende bürgerliche Gesellschaft auf Mitwirkung an der Gestaltung des Gemeinwesens drängte. Das «Genfer Erfolgsrezept» war damit sicher die geglückte Kombination von idealistischen Bestrebungen einer zunehmenden Zahl engagierter Bürgerinnen und Bürger mit einem sehr realpolitischen Interesse der Staaten an einer effizienten Durchsetzung ihrer macht- und ordnungspolitischen Interessen, die sich (bedauerlicherweise) immer öfter nur mehr mit kriegerischen Mitteln verwirklichen ließen. Für die Stärkung der beiden Pfeiler der Rotkreuzidee – Humanisierung der Kriegführung durch die Bildung von Hilfsgesellschaften und den Abschluss von Verträgen – war dies in der Tat ein idealer Nährboden.
Und so war die Rotkreuzfamilie im Jahre 1914 mit 38 Hilfsgesellschaften nicht nur im ganz überwiegenden Teil der europäischen und nichteuropäischen (Argentinien, Brasilien, China, Kuba, Japan, Mexiko, Peru, Türkei, Venezuela, Uruguay) Staatenwelt zu einer festen institutionellen Größe geworden. Die meisten nationalen Gesellschaften verfügten vielmehr auch über einen organisatorischen Unterbau, der eine tiefe Verankerung des Rotkreuzgedankens in breiten Gesellschaftsschichten dokumentierte. So existierten bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges etwa unter dem Dach des Zentralkomitees der deutschen Vereine vom Roten Kreuz bereits nahezu 6300 lokale und regionale Rotkreuzvereine mit über einer Million Mitgliedern. Ganz ähnlich dicht stellte sich die Organisationsstruktur auch in anderen Staaten dar. So zählte das erst 1881 von Clara Burton gegründete (US-)Amerikanische Rote Kreuz am Ende des Ersten Weltkrieges die ungeheure Zahl von 31 Millionen Mitgliedern (darunterelf Millionen Jugendrotkreuzler), organisiert in 3864 lokalen Vereinigungen.
Nicht zuletzt die mandatsbedingt engen Kontakte mit militärischen und politischen Entscheidungsträgern sowie die von Anfang an verbreitete Praxis einer Personalunion bei hohen Rotkreuzämtern einerseits und politischen sowie gesellschaftlichen Führungspositionen andererseits trugen wesentlich dazu bei, dass die Rotkreuzgesellschaften in vielen Staaten rasch eine Sonderstellung unter den humanitären und später auch karitativen Hilfsorganisationen erobern und diese auch bis heute behaupten konnten. In Deutschland spannt sich der Bogen einer personellen Verflechtung auf höchster Ebene von der Übernahme des Protektorats über den «Preußischen Centralverein» durch König Wilhelm und Königin Augusta (1865) über den General der
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