Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
gemeinsamen Werkes auch im Kriegsfall stets höher stellen würden als «rohen Patriotismus», hatte das Komitee noch Ende der 1860er Jahre selbst vorgeschlagen, die Zahl seiner Mitglieder um je ein Mitglied jeder nationalen Hilfsgesellschaft zu erhöhen. Die Erfahrungen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 sollten hier rasch einen Sinneswandel herbeiführen. Über seine bereits traditionelle Rolle als Koordinator der Sanitätshilfe der nationalen Hilfsgesellschaften und damit auch sein in der Genfer Konvention fixiertes Mandat hinausgehend, entfaltete das Komitee in diesem Konflikt erstmals auch eine umfangreiche Hilfstätigkeit zugunsten der Kriegsgefangenen. Delegierte konnten mit Hilfssendungen Kriegsgefangenenlager besuchen, täglich wurden 700 bis 800 Briefe zwischen Gefangenen und ihren Angehörigen übermittelt und der Rücktransport von über 2600 Kriegsverwundeten über die Schweiz organisiert. Das Komitee musste sich erstmals aber auch in einer ganz neuen Funktion bewähren: alsneutraler Vermittler zwischen den Kriegsparteien, die wegen des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen praktisch nicht mehr in der Lage waren, über humanitäre Fragen miteinander zu kommunizieren. Die einzige und durchaus fragile Basis für die Erfüllung dieser delikaten Aufgabe war das Vertrauen der Staaten in die Unabhängigkeit und Neutralität des Genfer Komitees und seiner Mitglieder. Nach dem Ende des Krieges musste das Komitee nun aber besorgt feststellen, dass sich nationale Hilfsgesellschaften in bedingungslosem Patriotismus an die Seite ihrer Regierung stellten und sich ihre höchsten Repräsentanten nicht nur am Propagandakrieg wegen angeblicher oder auch tatsächlicher Verletzungen der Genfer Konvention durch den jeweiligen Kriegsgegner beteiligten, sondern sich auch untereinander aufs Schärfste bekämpften. Der Graben war so tief und die feindselige Sprachlosigkeit auch in der Folgezeit so groß, dass die für 1871 in Wien geplante dritte Internationale Rotkreuzkonferenz abgesagt werden musste und erst 13 Jahre später in Genf nachgeholt werden konnte. Wollte man sich wirklich der sehr realen Gefahr aussetzen, national motivierte Zwietracht in das Komitee selbst hineinzutragen, dieses zu politisieren und damit nicht nur seine Funktionsfähigkeit, sondern vor allem auch seine gerade erst mühsam errungene Position als neutrale moralische Autorität aufs Spiel zu setzen?
In dieser spannungsgeladenen und für die Fortbestand der noch jungen Rotkreuzbewegung existentiell bedrohlichen Situation gab das Genfer Komitee eine im wahrsten Sinne des Wortes konservative Antwort: Das Erreichte, also insbesondere die Genfer Konvention, galt es zu bewahren; neue Initiativen, die fast unweigerlich zu politischen Kontroversen führen mussten, hingegen tunlichst zu unterlassen – zumindest vorerst. Das IKRK ist seiner Rolle als bloßer Wächter des humanitären Grals zwar längst entwachsen und hat inzwischen eine weltweit weitgehend unbestrittene Führungsrolle bei der Fortentwicklung von humanitärem Recht und Politik übernommen. Das vorsichtige und vor allem diskrete Abwägen der politischen Kosten einer humanitären Initiative aber ist bis heute ein Genfer Markenzeichen geblieben.
Die dauerhafte Bewahrung seiner Neutralität und Unabhängigkeit verdankt das Komitee wohl allein der Tatsache, dass ein vom Russischen Roten Kreuz auf der Rotkreuzkonferenz in Karlsruhe (1887) erneut vorgelegter Vorschlag der Ausdehnung der Mitgliedschaft im Komitee auf Nichtschweizer verbunden war mit einem solchen zur Eingliederung der nationalen Hilfsgesellschaften in eine echte, hierarchisch strukturierte internationale Organisation, an deren Spitze das Genfer Komitee stehen sollte. Ihre Unabhängigkeit aber wollten die nationalen Gesellschaften unter keinen Umständen opfern und so einigte man sich schließlich auf eine Beibehaltung des Status quo. Eine in der Retrospektive sicher glückliche Entscheidung, die bis heute Bestand hat. Bereits damals diskutierte Projekte für eine weniger weitgehende Stärkung des institutionellen Zusammenhaltes der Bewegung durch eine Föderation der nationalen Rotkreuzgesellschaften konnten erst in den 1920er Jahren verwirklicht werden. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg hatten solche Pläne im zunehmend antagonistischen Klima einer von Militarismus und übersteigertem Nationalismus geprägten (europäischen) Staatenwelt keine Chance auf Verwirklichung.
Und so konnte das Genfer Komitee nicht nur
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