Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
und anderen nichtstaatlichen Akteuren ist in der Tat bis heute ein bloßes Desiderat.
Bereits auf der 2. Rotkreuzkonferenz (Berlin 1869) war dem Genfer Komitee schließlich die Aufgabe anvertraut worden, in regelmäßigen Abständen ein Mitteilungsblatt, das «Bulletin international des Sociétés de la Croix-Rouge», herauszugeben. Neben den weiterhin regelmäßig an die nationalen Gesellschaften versandten Rundschreiben wurde diese Zeitschrift – noch heute unter dem Namen «International Review of the Red Cross» erscheinend – für das Internationale Komitee und seinen Präsidenten Moynier alsbald zu einem wertvollen, ja unverzichtbaren Steuerungsinstrument von praktischer Tätigkeit und inhaltlichen Diskussionen innerhalb der Bewegung. Und Diskussionsstoff war in der Tat von Anfang an in ausreichendem Maße vorhanden: Sollten sich Internationales Komitee und nationale Gesellschaften bei ihrer Tätigkeit auf den Kriegsfall beschränken oder zusätzlich auch Aufgaben in Friedenszeiten übernehmen? Welche Funktion sollte dem Internationalen Komitee zukommenund wie sollte es zusammengesetzt sein? Und schließlich, wie konnte der Zusammenhalt innerhalb der Bewegung gesichert werden? Das zentrale Forum für die Klärung dieser und anderer Grundsatzfragen waren (und sind bis heute) die Internationalen Rotkreuzkonferenzen, von denen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges insgesamt neun abgehalten werden konnten (Paris 1867, Berlin 1869, Genf 1884, Karlsruhe 1887, Rom 1892, Wien 1897, St. Petersburg 1902, London 1907 und Washington 1912).
In Berlin kam es 1869 zu einer folgenreichen Weichenstellung. Mit der unscheinbaren Formulierung, wonach «Hülfeleistung in den Nothständen des Friedens für eine lebenskräftige Entwickelung der Hülfs-Vereine notwendig [sei]», ermutigte die Abschlussresolution der Konferenz die nationalen Hilfsgesellschaften dazu, ihre Friedenstätigkeit nicht allein auf kriegsvorbereitende Maßnahmen zu beschränken. Nur dadurch, so lautete das Argument, ließen sich auf Dauer Freiwillige anwerben und deren Motivation aufrechterhalten. Vergeblich hatten IKRK und verschiedene Staatenvertreter davor gewarnt, dass durch ein Engagement auch in «Nothständen des Friedens» – wobei damals in erster Linie an Epidemien gedacht war – der «besondere Zweck der Unterstützung der Verwundeten und Kranken der Land- und Seeheere» in Vergessenheit geraten könnte. Angesichts der faktischen Allzuständigkeit auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege, die von vielen nationalen Gesellschaften – darunter auch dem Deutschen Roten Kreuz – heute wie selbstverständlich in Anspruch genommen wird, ist die Gefahr des Vergessens oder Verdrängens der ideellen Wurzeln der Rotkreuzbewegung aktueller denn je. Nicht Altenpflegedienst und Kinderbetreuung, nicht Rettungsdienst, Wasser- und Bergrettung oder das Blutspendewesen und viele andere wichtige soziale Dienstleistungen sowie vielfältige Katastrophen- und Entwicklungshilfeeinsätze sind es, die den besonderen Charakter der Mitgliedsverbände der Rotkreuzbewegung ausmachen. Ihre rechtliche Privilegierung auf internationaler Ebene, aber auch im nationalen Rechtsraum – etwa durch die Rotkreuzgesetze in Deutschland und Österreich – verdanken diese Verbände vielmehrbis heute einzig und allein der Tatsache, dass sie bereit sind, sich im Kriegsfall den zivilen und militärischen Behörden ihres Heimatstaates als «Hilfsgesellschaften» zur Verfügung zu stellen und sich auch bereits in Friedenszeiten auf einen solchen Einsatz vorzubereiten. Was die Rolle des Genfer Komitees anging, bestand immerhin Einigkeit dahingehend, dass seine fortdauernde Existenz für die Bewahrung und Verbreitung der Grundprinzipien der Rotkreuzidee und die Kommunikation zwischen den nationalen Gesellschaften sowie im Kriegsfall schließlich auch als Auskunfts- und Nachrichtenübermittlungsstelle der Kriegsparteien unverzichtbar war. Ein wie auch immer geartetes Hierarchieverhältnis zwischen Genf und den nationalen Gesellschaften sollte mit der Ausübung dieser Funktionen indes nicht verbunden sein – und ist es bis heute nicht.
Internationalisierung des Genfer Komitees? Eine zweite, bis in die 1880er Jahre hinein kontrovers diskutierte Frage von zentraler Bedeutung für die internationale Rotkreuzbewegung war die personelle Zusammensetzung des Genfer Komitees. Von der optimistischen Hoffnung getragen, dass die nationalen Hilfsgesellschaften und ihre Repräsentanten die Ideale des
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