Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
euphorische Züge annehmenden Aufbruchsstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit («Erdballgesinnung») war damit gleichzeitig auch eine völlige inhaltliche Neuausrichtung der Rotkreuzbewegung bezeichnet. Friedensaktivitäten,bis dahin nur ergänzende – wenn auch in der Praxis immer bedeutsamere – Bestandteile des primär kriegsvorbereitenden Aufgabenspektrums, sollten ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit der in den Rotkreuzvereinen organisierten Zivilgesellschaft rücken: Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, Hilfe bei Katastrophen, Kampf gegen Hunger und Armut, Unterstützung von Flüchtlingen sowie ganz allgemein die Förderung eines menschenwürdigen Daseins sowie die Verbreitung humanitärer Prinzipien und Werte – an möglichen Tätigkeitsfeldern mangelte es damals wie heute in der Tat nicht. Der Unterstützung der nationalen Gesellschaften bei der Erfüllung dieser Aufgaben sowie ihrer Koordination bei internationalen Einsätzen diente die Liga und dient heute die Föderation. Von der Typhus-Epidemie und Hungersnot in Polen unmittelbar nach Kriegsende, der Erdbebenhilfe in Japan (1923) bis hin zu großen Impfaktionen, Luftbrücken bei Hungersnöten und dem von der Föderation koordinierten und mit über 20.000 Helfern bislang größten Hilfseinsatz nach der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004 reicht die lange Liste der seit über 90 Jahren durchgeführten humanitären und karitativen Hilfsaktionen. Im Jahre 1961 ist auch diese Form der Friedensarbeit vom Nobelpreiskomitee in Oslo zu Recht als preiswürdig anerkannt worden.
Rolle des IKRK. Damit stellte sich Anfang der 1920er Jahre aber natürlich ganz zwangsläufig die Frage: Hatte das Internationale Komitee in Genf in dieser neuen Konzeption der Rotkreuzarbeit überhaupt noch einen Platz, und wenn ja – worin konnte seine Rolle bestehen? In der Völkerbundsatzung jedenfalls findet diese Institution keine Erwähnung. Für eine dem Ziel eines friedlichen Zusammenlebens der Völker verpflichtete Weltorganisation war dies letztlich auch nicht wirklich verwunderlich. Genf war zu Recht alarmiert. In seinem am 20. Mai 1919, also wenige Tage nach Gründung der Liga, versandten 182. Rundschreiben ist zwar von «ernsthafter Sympathie» sowie «wirklicher Zustimmung» für diese Initiative von ursprünglich nur fünf Rotkreuzgesellschaften der Hauptsiegermächte die Rede.Aber die Sorge um die Einheit und Universalität der Bewegung, insbesondere aber seine eigene Führungsrolle, überwog doch deutlich: «Das Internationale Komitee bleibt das zentrale Organ der Rotkreuzgesellschaften, so wie es auf der Grundlage einer ganzen Serie von Beschlüssen der Rotkreuzkonferenzen immer gewesen ist. Der neu geschaffene Organismus darf das Komitee nicht verdrängen, sondern (allenfalls) den Aktionsradius des Komitees ausbauen und erweitern.» Mit diesem selbstbewusst formulierten Führungsanspruch waren Konflikte vorprogrammiert und sollten Fragen der Koexistenz von Liga und IKRK denn auch – wenig überraschend – das beherrschende Thema der Rotkreuzkonferenzen der Jahre 1921, 1923 und 1926 sein.
Für das Genfer Komitee selbst galt es aber zunächst, seine eigenen organisatorischen Strukturen den neuen Herausforderungen anzupassen, ja entsprechende Strukturen überhaupt erst zu schaffen. Die seit mehr als 50 Jahren ganz formlos und ohne fest umrissenes Programm allein auf der Basis eines gemeinsamen Ethos und informeller Absprachen von seinem Präsidenten mehr oder weniger autoritär gesteuerte Honoratiorenvereinigung musste bereits 1915 in eine juristische Person schweizerischen Rechts umgewandelt werden. Mangels Rechtspersönlichkeit hätte das Komitee andernfalls gar keine Arbeitsverträge mit den vielen Mitarbeitern abschließen können, die während des Ersten Weltkrieges eben nicht mehr nur ehrenamtlich in Genf und andernorts für das IKRK tätig waren. Im Jahre 1921 gab sich das Komitee dann erstmals auch eine echte Satzung, in der nicht nur die internen Entscheidungsprozesse in klarer und transparenter Weise fixiert wurden. Zum ersten Mal überhaupt wurde hier vielmehr auch ein echter Aufgabenkatalog definiert. Dabei ging das Komitee über seine traditionelle Rolle als Zentralorgan der Rotkreuzbewegung und Vermittler zwischen den Rotkreuzgesellschaften, als Hüter der Rotkreuzprinzipien sowie als diejenige Stelle, die im Kriegsfall alle Kräfte zum Schutz der Kriegsopfer bündeln sollte, weit hinaus. Ganz explizit fühlte es sich
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