Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
aufgebaut werden. Bald sollten täglich 2000 bis 3000 Suchanfragen und Briefe die Genfer Agentur sowie – für die deutsch-russische Front – eine 1916 in Kopenhagen eingerichtete Zweitagentur erreichen. Bis zu 1400 zumeist ehrenamtliche Mitarbeiter(innen) – darunter auch berühmte «Exilanten» wie der französische Literaturnobelpreisträger Romain Rolland – sorgten für den Transport von 20 Millionen Briefen und Mitteilungen sowie von fast 1,9 Millionen Paketen und Geldspenden in Höhe von ca. 18 Millionen Schweizer Franken an Kriegsgefangene aller am Konflikt beteiligten Staaten. Dank der Vermittlung der Zentralstelle konnten schließlich etwa 200.000 vor allem schwer verwundete und kranke Gefangene ausgetauscht und 67.000 Opfer in der Schweiz hospitalisiert werden.Bereits im Jahre 1915 hatten sich die Kriegsparteien geeinigt auf den Austausch «aller Schwerverwundeten und Kranken, deren Gebrechen und Leiden ihre militärische Verwendung im Heeresdienst dauernd oder für absehbare Zeit ausschloss». Initiiert und im engen Zusammenwirken mit der Schweizer Bundesregierung mit großem persönlichen Einsatz sowie diplomatischem Geschick vorangetrieben durch das IKRK (insbesondere seinen Präsidenten Gustave Ador), unter tatkräftiger Unterstützung nationaler Rotkreuzgesellschaften sowie schließlich der Nutzung aller humanitären Ressourcen (u.a. ein Appell Papst Benedikt XV.), sollte das Zustandekommen dieser Vereinbarungen zur Blaupause für alle späteren humanitären Initiativen werden. Lange Lazarettzüge mit Verstümmelten und Geisteskranken, deutlich gekennzeichnet durch ein Rotes Kreuz, rollten in der Folgezeit durch ganz Europa.
Fünf Millionen Schicksale. Grundlage für die umfassenden Aktivitäten des IKRK zugunsten der Kriegsgefangenen waren kleine handgeschriebene Karteikarten, deren Anzahl bis Kriegsende auf nahezu fünf Millionen anwuchs und die jede einzelne ein individuelles Schicksal dokumentiert. So ist hier ein in Göttingen inhaftierter afghanischer Unteroffizier der englischen Armee (Mohamed Shadad-Khan) mit Name und Wohnort seiner nächsten Verwandten (Boran Dhani Basth – Soran bei Kalat) ebenso registriert wie auf der Karte mit der Nummer 64.178 ein gewisser Charles de Gaulle, Hauptmann des 33. Französischen Infanterieregiments und 1916 bei Verdun in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Im Jahre 2007 ist das Archiv der Agentur, dessen Kernstück ebendiese einzigartige Karteikartensammlung bildet, wegen ihrer historischen Bedeutung in das UNESCO-Register «Memory of the World» (Gedächtnis der Menschheit) aufgenommen worden und wird derzeit für den digitalen Zugriff der Öffentlichkeit restauriert und technisch aufbereitet. Auf der eher rudimentären rechtlichen Basis der Haager Landkriegsordnung von 1906 besuchten Delegierte des Internationalen Komitees sowie der Rotkreuzgesellschaften neutraler Staaten schließlich auch zahlreiche Gefangenenlager. Die vorgefundenenMissstände (Ernährung, Bekleidung, Gesundheitsfürsorge) nahm das Komitee zum Anlass für energische Appelle an die Kriegsparteien. Verzichtet werden sollte vor allem auch auf die verbreitete Praxis von Repressalien an den Kriegsgefangenen wegen tatsächlicher, oft genug aber auch nur angeblicher Rechtsverletzungen der jeweils anderen Seite. Es war insbesondere dieser beispiellose Einsatz zugunsten der Kriegsgefangenen, dem das IKRK im Jahre 1917 dann auch seinen ersten Friedensnobelpreis zu verdanken hatte – der einzige Preis, der während des gesamten Krieges vom Osloer Nobelpreiskomitee vergeben wurde.
Jenseits des Mandats. In zweierlei Hinsicht ergriff das Komitee im Verlaufe des Krieges Initiativen, die auch bei sehr großzügiger Auslegung nicht von seinem Mandat gedeckt und daher letztlich allein Ausdruck seiner humanitären Mission waren. So richtete die Genfer Kriegsgefangenenagentur nicht nur einen besonderen Such- und Auskunftsdienst auch für in den Wirren des Krieges verschollene Zivilisten ein. Vielmehr forderte das Komitee für in Feindstaaten oder besetzten Gebieten internierte Zivilpersonen auch eine Gleichbehandlung mit den Kriegsgefangenen – gelegentlich sogar mit Erfolg. Damit war erstmals ganz offiziell – wenn auch noch ohne rechtliche Basis – eine Opfergruppe in den Blick genommen worden, die in der Folgezeit die Hauptlast moderner Kriegführung, die zunehmend auf ein räumlich klar definiertes Gefechtsfeld verzichtete, tragen sollte. Noch aufsehenerregender war die zweite
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