Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
gelang, ein verbessertes Schutzregime für die Zivilbevölkerung durchzusetzen. Erst im Juni 1939 lag ein entsprechender Vertragsentwurf vor. Zu spät, denn wenige Wochen später brach der Zweite Weltkrieg aus. Durch die Art und Weise der Kriegführung (Flächenbombardements, Vernichtungskrieg im Osten) und im Schatten des Kriegsgeschehens (Massenmord in den Konzentrationslagern) sollte der Zivilbevölkerung erstmals in einem großen europäischen Krieg in wirklich systematischer Weise unerhörtes Leid zugefügt werden. Jedenfalls von Rechts wegen waren den Möglichkeiten humanitärer Hilfe zugunsten dieser großen Opfergruppe damit in der Tat sehr enge Grenzen gesetzt. Dies wird man dem IKRK ganz sicher nicht zum Vorwurf machen können. Ob das Genfer Komitee in der einen oder anderen Situation mit etwas mehr Mut, Phantasie, Kreativität oder einfach auch nur der spontanen Empathie eines Henry Dunant nacheifernd sein Mandat auch in diesem Krieg – wie ja bereits mehrfach erfolgreich erprobt – «im Dienste der Menschlichkeit» erweiternd hätte auslegen können oder gar müssen, ist eine ganz andere und bis heute viel diskutierte Frage.
4. Das Rote Kreuz und die Konflikte der Zwischenkriegszeit
Kleine Kriege. Der pazifistische Traum einer Weltordnung, in der alle Konflikte auf friedlichem Wege gelöst würden, war bald ausgeträumt. Auch ein fast 20 Jahre währender Friedenszustand zwischen den Staaten Europas kann und darf darüber nicht hinwegtäuschen. Winston Churchill charakterisierte die Situation nach 1918 mit den treffenden Worten: «Der Krieg der Giganten ist zu Ende, der Hader der Pygmäen hat begonnen.» Dieser «Hader» aber war – zumal aus der Opferperspektive – alles andere als belanglos, wie die etwas verharmlosende Formulierung suggerieren mag. Ganz im Gegenteil: Bereits unmittelbar nach dem Weltkrieg wurden in den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Oberschlesien (1920/21) und an anderen Orten Europas, vor allem aber während des blutigen und langwierigenrussischen Bürgerkriegs (1917/18–1920) die einstmals relativ klaren Grenzen zwischen militärischer und ziviler Sphäre weiter verwischt – mit erheblichen Konsequenzen gerade auch für das Wirken des Roten Kreuzes. Die unmittelbar am Kampfgeschehen beteiligten nichtstaatlichen Akteure – Partisanen, Aufständische, Freischärler und andere «irreguläre» Kämpfer – fielen formal nicht unter das ganz auf den klassischen Zwischenstaatenkrieg zugeschnittene Genfer Schutzregime und waren damit im Falle von Verwundung oder Gefangennahme jedenfalls von Rechts wegen hilflos staatlicher Willkür ausgeliefert. Auch die Gefährdungslage der «echten» Zivilbevölkerung – für die auf internationaler Ebene ebenfalls ein adäquates Schutzregime fehlte – hatte sich durch die neue Form «kleiner Kriege» erheblich vergrößert. Leib, Leben und Eigentum von Zivilisten war nicht nur durch teilweise grausame und völlig überzogene staatliche Repressalien wegen tatsächlicher oder auch nur angeblicher Unterstützung von Rebellen bedroht. Mangels klarer Frontlinien und Schlachtfelder wurden Unbeteiligte zunehmend unmittelbar zu Opfern des Kampfgeschehens. Getroffen durch eine verirrte Kugel, soll die aus Sorge um ihr Hab und Gut unvorsichtig aus dem Fenster ihres Hauses blickende Antonia Savio Cerini am 24. Juni 1859 das einzige zivile Opfer der großen Schlacht bei Solferino gewesen sein. Diese Zeiten waren endgültig vorbei.
Spanischer Bürgerkrieg. Bürgerkriege haben die Eigenschaft, dass sie regelmäßig mit besonderer Erbitterung und Grausamkeit geführt werden, droht dem Verlierer doch hinsichtlich seines gesamten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens dauerhafte und bedingungslose Unterwerfung unter den Willen des Siegers. Zudem dienten und dienen gewaltsame Auseinandersetzungen unterhalb der Schwelle eines internationalen Konflikts oftmals auch als «ideales» Experimentierfeld zur Vorbereitung eines «echten» Krieges. Für beide Phänomene bildet der Spanische Bürgerkrieg von 1936–1939 ein ebenso markantes wie trauriges Beispiel. Das jahrelange brutale Ringen zwischen Republikanern und den rechtsgerichtetenPutschisten um General Franco um die Macht in Spanien führte zu einer beispiellosen Welle von Solidaritätsbekundungen der intellektuellen, schriftstellerischen und künstlerischen Elite Europas zugunsten der spanischen Republik. Ein Bild von Pablo Picasso, welches die schrecklichen Folgen des
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