Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
nun auch dem Los der Schwachen und Kranken verpflichtet – und zwar in Krieg und Frieden. Die drohende Konkurrenz der Ligaauf dem zukunftsträchtigen Gebiet der Sozialdienstleistungen im weitesten Sinne hat hier sicher förderlich gewirkt.
Ein neues institutionelles Gleichgewicht. Der schwelende Strukturkonflikt – Fusion, hierarchischer Ordnung, oder ein Kooperationsmodell, das Liga und Komitee ihre Unabhängigkeit und Autonomie bewahrte – konnte erst 1928 auf der Rotkreuzkonferenz in Den Haag beigelegt werden. Der neue IKRK-Präsident, Max Huber, hatte mit Unterstützung von Paul Draudt, Vizepräsident sowohl des DRK als auch der Liga der Rotkreuzgesellschaften, ein Modell erarbeitet, das allgemeine Anerkennung fand. Nach den Statuten von 1928 sollte die Bewegung «Internationales Rotes Kreuz» (heute: «Internationales Rotes Kreuz und Roter Halbmond») aus drei institutionell voneinander unabhängigen Teilen bestehen: den nationalen Rotkreuzgesellschaften, dem Internationalen Komitee sowie der Liga der Rotkreuzgesellschaften. Die Einheit der Bewegung sollte durch eine im Regelfall alle vier Jahre abgehaltene und mit «höchster beratender Autorität» ausgestattete Rotkreuzkonferenz sichergestellt werden. Ein Recht, in die internen Belange von Komitee, Liga oder nationalen Gesellschaften einzugreifen, sollte dieser Konferenz indes nicht zustehen. Kompetenzen von Komitee und Liga werden sorgfältig aufgelistet und eine Pflicht zur Kooperation der beiden Institutionen statuiert, die ihrerseits in keinem wie auch immer gearteten Hierarchieverhältnis zueinander stehen sollten. Das Komitee konnte seine traditionelle Rolle behaupten, die Koordinationsfunktionen in Friedenszeiten und die sonstigen in ihrem Statut von 1919 niedergelegten Aktivitäten der Liga wurden anerkannt. Ganz bewusst am Jahrestag der Publikation von Henry Dunants «Eine Erinnerung an Solferino», dem 8. November 1986, ist ein neues, 1995 und 2006 erneut geringfügig modifiziertes Statut in Kraft getreten. An der Grundkonzeption von 1928 – einem sorgfältig austarierten institutionellen Gleichgewicht – hat es aber nichts geändert. Vielleicht bedurfte es ja tatsächlich eines nicht unmittelbar mit dem Genfer Erbe belasteten Außenseiters, des Züricher Völkerrechtlers Max Huber, um diese für den Zusammenhalt, ja denFortbestand der Bewegung zentrale Vereinbarung erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Zumindest innerhalb der Bewegung war damit die Grundlage für einen dauerhaften Friedenszustand gelegt.
Genf: Den nächsten Krieg im Blick. In der realen Welt haben Völkerbundsatzung und später der Kriegsächtungsvertrag von 1928 (Briand-Kellogg-Pakt) dies bekanntermaßen nicht vermocht. Eine durch eine relative Waffenruhe begünstigte pazifistische Grundstimmung und eine überwältigende Vielfalt sozialer und gesundheitspolitischer Herausforderungen ließen in (West-)Europa den Krieg in den 1920er Jahren aber zunächst tatsächlich gedanklich in weite Ferne rücken. Insbesondere die Bewältigung der Folgewirkungen der von massiven politischen Umwälzungen betroffenen ost- und südosteuropäischen Staaten (Auflösung von Habsburger- und Osmanischem Reich, Russische Revolution) band alle verfügbaren humanitären Kräfte. Und so blieb es (erneut) dem Internationalen Komitee und seiner weniger durch Optimismus als durch Realismus geprägten Weltsicht vorbehalten, den Krieg als eine nach wie vor reale Gefahr nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Man ließ sich in Genf nicht von den auch in der Bewegung selbst verbreiteten überoptimistischen Zukunftshoffnungen anstecken und forderte, aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges Konsequenzen für eine Weiterentwicklung des Humanitären Völkerrechts zu ziehen. Das Genfer Giftgasprotokoll (1925) und die Genfer Abkommen über Verwundete und Kranke einerseits und Kriegsgefangene andererseits (1929) sind in der Tat das Ergebnis einer intensiven Lobbyarbeit und der Vorbereitung praktisch unterschriftsreifer Vertragsentwürfe durch das Komitee. Die Abkommen von 1929 sollten im Zweiten Weltkrieg die zentrale Legitimitätsgrundlage für das Wirken des IKRK bilden und auch das Protokoll von 1925 mag zumindest dazu beigetragen haben, dass es im nächsten großen Weltkonflikt keine Seite wagen sollte, chemische oder bakteriologische Waffen einzusetzen.
Im wahrsten Sinne fatale Folgen sollte es indes haben, dass es dem IKRK in der Zwischenkriegszeit trotz intensiver Bemühungenauf allen Ebenen nicht
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