Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
auf dem internationalen Markt der humanitären Hilfe in Kriegs- und Friedenszeiten nicht mehr allein. Mit der Gründung der UNO samt zahlreicher auf dem humanitären Sektor tätiger Untereinheiten und Sonderorganisationen (z.B. UNICEF, UNHCR, UNDP), von Regionalorganisationen (z.B. entwicklungspolitische und humanitäre Aktivitäten der Europäischen Union) und einer kaum noch überschaubaren Anzahl privater Initiativen (z.B. Ärzte ohne Grenzen, Oxfam, Care) ist das internationale Engagement in der Not-, Katastrophen- und allgemeinen Entwicklungshilfe sprunghaft angestiegen. Allein 3536 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) – davon viele mit einem im weitesten Sinne entwicklungspolitischen Hintergrund – besaßen im Jahr 2011 Konsultativstatus beim UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC). Ein erheblicher Koordinierungsbedarf ist die unausweichliche Folge. Da die einstmals relativ klare Trennlinie zwischen Kriegs- und Friedenseinsätzen zunehmend verschwimmt, besteht ein solcher auch nicht nur hinsichtlich der humanitären Friedensarbeit von Föderation und nationalen Gesellschaften. Vielmehr ist auch das IKRK selbst unmittelbar von dieser Entwicklung betroffen: Hunger, Umweltschäden, Flüchtlingsströme, Ressourcenmangel können die Folgen von Kriegen sein oder diese auslösen – deren regelmäßige Begleiterscheinungen sind humanitäre Katastrophen dieser Art allemal. Hinzu kommt, dass die Grenzen zwischen Krieg und Frieden auch in zeitlicher Hinsicht fließend werden. Klar definierbare Anfangs- und Endpunkte besitzen bewaffnete Konflikte heute nur mehr in Ausnahmefällen.
Seit 1991 fungiert ein UN-Untergeneralsekretär als Leiter eines etwa 1900 Mitarbeiter umfassenden Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (engl.: Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA) als Nothilfekoordinator aller auf diesem Gebiet tätigen Akteure. Auch IKRKund Föderation sind in prominenter Weise in diesen wichtigsten strategischen Koordinierungsmechanismus zwischen den großen humanitären Hilfsorganisationen eingebunden. Das IKRK ist sich dabei seines völkerrechtlichen Sonderstatus wohl bewusst und sieht sich in diesem Koordinierungsprozess zu Recht als gleichberechtigter Partner und nicht etwa als ein den UN-Institutionen untergeordneter «Befehlsempfänger». Gleiches gilt auch für die Föderation, die in mehreren Abkommen jüngeren Datums eine deutliche Aufwertung ihres völkerrechtlichen Status erreichen konnte. Internationale und nationale Komponenten der Rotkreuzbewegung haben damit in der humanitären Landschaft der Gegenwart zwar ihre einstmals fast monopolartige Position verloren. Durch effiziente weltumspannende Organisationsstrukturen, Status, jahrzehntelange Erfahrung und eine tiefe Verankerung in den Zivilgesellschaften praktisch aller Staaten dieser Welt kommt der Rotkreuzbewegung aber immer noch eine privilegierte und im Kriegsfall auch nach wie vor weitgehend exklusive Stellung zu.
VI. Die Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung
«Im Anfang war die Tat.» Mit solch aufklärerischem Gestaltungsoptimismus ausgestattet schickt Goethe seinen Faust auf eine epische Reise durch Zeit und Raum. Auch am Beginn der Rotkreuzbewegung steht die Tat, spontane Hilfe im Angesicht menschlichen Leids. Das Wort kam später. Unausgesprochen noch lag auch dieser ersten Tat im Juni 1859 auf dem Schlachtfeld von Solferino aber bereits eine sehr konkrete Gesinnung zugrunde, die nicht nur von allen Weltreligionen in Worte gefasst worden ist, sondern auch als goldene Regel säkularen Denkens gilt: «Tut anderen, was ihr wollt, das sie euch tun.» Humanität (Menschlichkeit), definiert mit Émile Littré als «Gesinnung des aktiven Wohlwollens gegenüber den Menschen»,wird alsbald mit dem Wesenskern der Rotkreuzbewegung identifiziert. Dieser Begriff bezeichnet inzwischen nicht nur deren Protagonisten selbst («The Humanitarians»), sondern auch das vom Roten Kreuz maßgeblich initiierte und bis heute mitgestaltete Rechtsgebiet («Humanitäres Völkerrecht»). Und so lässt sich der Kern des Wirkens der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung denn in der Tat in dem schlichten Satz zusammenfassen, dass nichts, auch nicht der Krieg, dem Menschen seine Humanität und damit den Minimalanspruch der Achtung seiner Person rauben kann und darf.
Erklärungsbedürftig wird humanitäres Handeln letztlich erst dann, wenn es die individuelle Sphäre überschreitet und sich in Organisationsstrukturen manifestiert
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