Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
ihre ältere Schwester Guste mit Bertram Messmer verheiratet, weil ihm die Verbindung seines damals noch recht kleinen Handelshauses mit der Messmer-Reederei günstig schien. Die Reederei hatte sich bei der Umstellung von Börtschiffen auf Dampfschiffe übernommen und konnte Gustes großzügige Mitgift gut gebrauchen, um sich wieder zu sanieren. Gemeinsam hatten Bertram, der Witwer und gut zwanzig Jahre älter war als Guste, und der alte Kaufmeister durch die Vereinigung ihrer Geschäfte ein großes Vermögen angehäuft, das Georg mit einigen Neuerungen nun auszuweiten gedachte. Aber der konservative Vater stand ihm dabei im Weg, und Bertram, obwohl eher Georgs Linie zugeneigt, war nicht gewillt, sich seinem alten Wohltäter offen entgegenzustellen. Darüber hatte es mehr als einmal Streit zwischen den Schwagern gegeben.
Aber diesmal schien sich alles um ein anderes Thema zu drehen. Doch bevor Lina näher kommen konnte, um zu hören, um was es ging, kam ihre Schwester Guste die Treppe aus dem oberen Stockwerk herunter, gefolgt von der massigen Gestalt ihrer Schwägerin Aaltje.
«Kommen Sie auch mal nach Hause», rief diese Lina zu. «Uw Vader voelt zich niet goed.»
Guste, die die hagere Figur des Vaters und zu ihrem Leidwesen auch dessen Gesichtszüge geerbt hatte, besah sich ihre Schwester. «Meine Güte, Lina, du bist ganz durchnässt!»
Das Hausmädchen steckte ihren Kopf aus der Küche, um zu hören, was im Flur vor sich ging, und noch bevor sie die Tür schnell wieder schließen konnte, ließ Lina ein scharfes «Finchen» hören.
Finchen, mit gerade vierzehn Jahren die jüngste Bedienstete im Kaufmeister’schen Haushalt, kam vorsichtig heraus. Lina hatte inzwischen Mantel und Hut ausgezogen und gab ihr beides. «Lauf nach oben und bring mir ein anderes Paar Schuhe.» Erschöpft setzte sie sich auf die große Truhe.
«Was ist denn passiert? Dein Kleidersaum und deine Schuhe sind ja voller Dreck!» Guste und Aaltje hatten sich vor ihr aufgebaut.
«Ich habe nahe am Friedhof zwei tote Kinder gefunden», sagte Lina knapp.
«Ja, das kommt davon, wenn Sie sich im Dunkeln draußen herumtreiben, Schwägerin», sagte Aaltje. «Een vrouw hoort thuis – eine Frau gehört ins Haus.»
Guste starrte sie entgeistert an. «Wurden sie denn ermordet?»
«Daran besteht wohl kein Zweifel.» Lina beschrieb den beiden den Zustand der Leichen.
Guste und Aaltje waren noch ganz benommen von der grausigen Erzählung, als es auf der Treppe polterte. Finchen fiel fast die Treppe herunter, so sehr hatte sie sich beeilt. Wie alle Bediensteten im Haus hatte sie großen Respekt vor Lina. Ungefragt kniete sie sich hin, um ihrer Herrschaft mit den Schuhen zu helfen, wie sie es meistens morgens tat. Lina hatte ihren Stolz, was ihr Gebrechen betraf, aber bei den Schuhen dauerte es ihr einfach zu lange, wenn sie sie selbst anzog.
Mit spitzen Fingern zog Finchen ihr die verdreckten Schnürstiefel aus, um ihr dann in die anderen, gleich aussehenden zu helfen.
«Was ist da drin los?», fragte währenddessen Lina ihre Schwester.
Die seufzte. «Ich habe heute einen Brief von Mina erhalten. Sie hatte wohl Angst, dass Georg ihn liest, wenn sie ihn an dich schickt.»
Wilhelmine, genannt Mina, war Linas Zwillingsschwester. Ihr Mann Justus war Abgeordneter der Nationalversammlung gewesen und hatte nach dem Scheitern der demokratischen Kräfte nicht wie andere sein Fähnchen nach dem preußischen Wind gehängt. Es hatte jedoch eines Pressvergehens in Form eines kritischen Zeitungsartikels bedurft, um ihn endgültig der Willkür der Geheimen Polizei auszusetzen. Er und seine Familie hatten manche Repressalien zu erleiden. Schließlich waren sie Mitte letzten Jahres nach Brüssel geflohen, um der drohenden Verhaftung zu entgehen.
«Was schreibt sie?»
«Sie bittet uns um Geld. Justus hat mit den letzten Ersparnissen eine Passage nach London bezahlt, weil er dort hofft, bessere Arbeit zu bekommen – du weißt, er spricht kaum Französisch. Und Mina sitzt mit den Jungen nun mittellos in einer fremden Stadt.»
«So weit ist es also gekommen.» Lina hielt ihre Röcke etwas höher, damit Finchen die Schuhe oben ordentlich schnüren konnte. «Nichts gegen Justus’ Gesinnung, aber der Artikel im Leipziger Grenzboten war wirklich eine große Dummheit.»
«Weiß Georg, dass du das Blatt im Haus hast?»
«Nein, aber ich habe es von deinem Mann, Guste.»
Guste seufzte und sah sich nach Aaltje um, in der Hoffnung, dass die Schwägerin nicht alles
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