Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Kaufmeister. Es gibt wirksame Magie, und es gibt schwarze und böse Gemeinschaften, die sich ihrer bedienen.»
Lina schüttelte energisch den Kopf. «Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter! Wir können Schiffe mit Dampf antreiben und fahren in der Eisenbahn ohne Pferde schneller als jede Kutsche …»
«Und es können Leute herziehen, die innerhalb kürzester Zeit zur feinen Gesellschaft gehören und Rituale in einem Keller abhalten. Und ein Mann kann sich plötzlich so verschlucken, dass er kaum noch Luft bekommt, wenn ein Gespräch eine unliebsame Wendung nimmt. Oder haben Sie mir das nicht eben erzählt?»
«Das war sicher nur Zufall.» Lina ertappte sich, dass sich ihre Stimme wie die eines trotzigen Kindes anhörte.
«Während er mit der Priesterin gesprochen hat? Nie und nimmer.» Pater Johannes war einen kleinen Moment lang laut geworden, jetzt senkte er seine Stimme wieder. «Sie haben mich in der Kirche gefragt, ob es Besessene gibt. Ja, Fräulein Kaufmeister, es gibt sie. Oder zweifeln Sie an der Bibel, die Sie als Protestantin doch sicher gut kennen? Markus 5,9: Jesus fragte ihn: Wie heißt du? Er antwortete: Mein Name ist Legion; denn wir sind viele .»
«Nehmen Sie denn die Bibel wörtlich, Pater Johannes?» Langsam kroch die Kälte in ihr hoch, aber sie konnte nicht sagen, ob es nur das kühle Wetter war oder ob die Dinge, die er erzählte, ihr diesen Schauder verursachten.
«Diese Stelle schon. Sie haben es doch mit eigenen Augen gesehen. Sie haben den Maler gesehen und die Priesterin. Und ohne es zu merken, sind Sie wahrscheinlich noch mehr von ihnen begegnet.»
Lina sah den Pater sprachlos an. Und während sich etwas in ihr noch gegen diese ungeheuerliche Erkenntnis wehrte, rief ihr Verstand all die Zusammentreffen mit Reppenhagen ab, in denen er unfreundlich oder charmant war, gleichgültig oder unsicher, ob er sie überhaupt kannte.
«Sie meinen, er ist von mehreren …» Es fiel ihr schwer, das auszusprechen. «Von mehreren unterschiedlichen Dämonen …»
«So sah man es zu Jesu Zeiten. Aber die Wahrheit ist, er ist diese Dämonen.» Er zuckte die Schultern. «Unsere Sprache ist dem leider nicht gewachsen. In diesem einen Körper leben mehrere Personen, und eine davon ist die Priesterin.»
«Woher … woher wissen Sie davon?»
Er blickte sie nicht an. «Die Bruderschaft weiß seit vielen Jahrhunderten davon. Jesus hat Wunder gewirkt und Dämonen ausgetrieben. Beides sieht die heutige Zeit als abergläubisch und gegen die Ratio an. Wenn wir aber das eine akzeptieren, die Wunder, die Auferstehung, dann müssen wir auch das andere anerkennen. Und wir müssen anerkennen, dass etwas, das wir als Magie bezeichnen, existieren könnte. Besessene wie Reppenhagen sind ein sehr mächtiges Instrument der Magie.» Er drehte sich wieder ganz zu Lina und sah ihr ins Gesicht. «Wir wissen nicht, was unser Geist zu tun vermag. Und die Kirche hat über die Jahrhunderte hinweg gut daran getan, ihre Schäfchen von diesen Dingen fernzuhalten. Wenn ein Einzelner mit einem magischen Ritual etwas erreicht – und nur dazu wird ein Ritual durchgeführt –, wie mächtig ist dann ein Wesen, das viele in sich vereint?»
«Aber das ist … es ist … Ich glaube nicht an Magie und irgendwelche Geisteskräfte, die über die Kraft des Verstandes hinausgehen. Ich glaube an Gott, der uns Menschen geschaffen hat, und ich glaube, dass wir Menschen Gott mit unserer Arbeit dienen und ihn in unseren Werken verherrlichen sollen.» Die Kälte ließ langsam ihre Finger steif werden.
«Gibt es eine bessere Erklärung für Reppenhagen und die Priesterin als die, die ich Ihnen gerade genannt habe?» Seine Stimme wurde wieder leiser. «Es ist nicht das erste Mal, dass ich einem solchen Wesen begegne. Einem Wesen mit vielen Stimmen und vielen Gesichtern, die man allerdings weniger sehen als erspüren kann. Ich habe es besiegt, aber mein Mitbruder, der mit mir kämpfte, hat sein Leben gelassen. Und ich selbst habe danach an allem gezweifelt, was mir heilig ist. Deshalb bin ich hier. Und nun verfolgt mich das Böse bis in diese kleine unbedeutende Stadt.»
Lina spürte, wie verzweifelt er war. Ein Mann, der um seinen Glauben und seine geistige Gesundheit rang. Und in ihr stritt das, was sie mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hatte, mit allem, was sie in ihrem Leben gelernt hatte: dass der klare, gesunde Menschenverstand über alles triumphierte. «Warum haben Sie mir das erzählt?», fragte
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