Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Und dann …» Hätte sie nicht bereits ein vom Fieber gerötetes Gesicht gehabt, hätte sie sicher noch stärker die Farbe gewechselt.
«Wie konntet ihr nur so dumm sein, beide noch Kinder.»
«Simon spart all sein Geld, damit wir heiraten können.»
«Und wann soll das sein?», fragte Lina wütend. «In zwanzig Jahren?»
«Er sorgt für mich», sagte Finchen trotzig und zuckte zusammen, weil Lina begonnen hatte, vorsichtig die verfilzten Locken zu kämmen. «Er hat mir das Geld gegeben, damit ich ein Dach über dem Kopf habe.»
«Ja.» Lina zerrte an einem besonders hartnäckigen Knoten, und Finchen biss die Zähne zusammen. «Dann dauert es mit dem Heiraten eben noch ein paar Jahre länger. Und dann? Es ist sehr schwierig für Ehepaare, eine gemeinsame Anstellung zu finden, die meisten Herrschaften mögen das nicht.»
«Ich weiß.» Finchen schluckte. «Ich weiß das ja.» Und dann begann sie zu weinen.
Lina hörte auf zu kämmen und setzte sich zu ihr auf das Bett. Sie nahm sie in die Arme und wiegte sie sanft. «Wir werden eine Lösung finden, Finchen. Eine vernünftige Lösung, kein Hirngespinst.»
Dann kämmte sie vorsichtig weiter und flocht Finchen zwei dicke Zöpfe für die Nacht.
Es waren noch ein paar Tränen geflossen, aber dann war Finchen eingeschlafen. Das war seit langem ihre erste Nacht in einem sauberen, frischen Bett. Ihre Kleidung ließ Lina oben vor der Tür liegen. Wenn sie getrocknet war, würde Antonie sie ins Herdfeuer werfen.
Als Lina herunterkam, saß Borghoff in trockenen Sachen unten in der Küche und schlürfte Hühnersuppe. Er sah immer noch verfroren aus.
«Danke», sagte Lina, nahm sich auch einen Becher Suppe und setzte sich zu ihm.
«Es war ein unbeschreibliches Loch, in dem ich sie vorgefunden habe. Eigentlich sollte man so etwas polizeilich verbieten. Die neuen Häuser sind für vier bis sechs Familien gebaut, aber in jedem leben an die hundert Menschen. Es gibt kein Wasser in der Nähe, sie müssen bis zum Brunnen des Bauern, keinen Waschplatz und nur ein Bett pro Zimmer für an die zwanzig Personen. Sie haben Finchen einen Silbergroschen im Monat abgenommen, aber ich glaube, in dem Bett hat sie nur gelegen, weil sie krank war – zusammen mit den Kindern.»
«Gut, dass sie jetzt hier ist. Sie sagten, Sie wüssten, wo sie hingehen kann?»
Er nickte. «Ich dachte an das Heim in Duisburg, ich hatte Ihnen davon erzählt. Es ist nicht sehr schön dort, und die Frauen müssen hart arbeiten, aber es ist sauber, jede hat ein Bett, und für das Kind wäre auch gesorgt.»
«Im Waisenhaus?», fragte Lina skeptisch.
«Wissen Sie eine bessere Lösung? Wenn sie vom Kindbett genesen ist und ihre Schuld abgearbeitet hat, kann sie woanders ganz neu anfangen.»
Lina war nicht wohl bei dem Gedanken, Finchen beibringen zu müssen, ihr Kind wegzugeben, aber auch ihr war klar, dass dies die einzige Möglichkeit war, Finchens junges Leben wieder auf die rechte Bahn zu bringen. Die Träume von einer Heirat mit Simon waren ohnehin nicht zu verwirklichen.
Borghoff nieste heftig.
«Gesundheit», wünschte sie ihm. «Hoffentlich haben Sie sich nicht erkältet, so nass, wie Sie waren.»
«Und dabei haben wir Juni. Ich weiß, es ist die Schafskälte, aber ich kann mich nicht erinnern, je einen so kalten Juni erlebt zu haben.»
Lina hätte ihm gern einen Cognac gegeben, aber es war keiner im Haus, und an Claras Liqueurvorräten wollte sie sich nicht vergreifen. Vermutlich hatte Borghoff einen Schnaps auf seinem Zimmer.
«Gehen Sie bald zu Bett», sagte Lina. Sie hatte ihre Suppe getrunken und stand auf. «Ich weiß zwar nicht, ob ich nach den Aufregungen heute schlafen kann, aber ich werde es jetzt versuchen.»
«Gute Nacht. Ich nehme noch etwas Suppe, vielleicht wird mir dann wieder warm.»
Unter Linas guter Pflege erholte sich Finchen rasch. Die Aussicht aber, dass ihre Genesung bedeutete, sie in das Frauenheim nach Duisburg bringen zu müssen, bedrückte Lina sehr. Commissar Borghoff nutzte einen Termin mit dem Staatsanwalt in der Nachbarstadt dazu, ihn zu bitten, seine Verbindungen spielen zu lassen und Finchen einen Platz in dem Heim zu verschaffen. Schon am nächsten Tag bekam er die Zusage, dass Finchen jederzeit dort aufgenommen werden würde.
Es war Linas Aufgabe, Finchen zu erklären, was nun mit ihr geschehen würde. Schweren Herzens bat sie sie zu sich in die Wohnung. Zunächst hörte das Mädchen schweigend zu, wie Lina ihr die Vorteile dieser Lösung schilderte, aber
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