Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
genäht, und nun begann die junge Mutter, sich im Haus nützlich zu machen – sehr zum Ärger von Antonie, die rasch merkte, dass alles, was sie sich mühsam hatte erarbeiten müssen, Finchen, dank Linas guter Schule in der Carlstraße, ganz natürlich von der Hand ging.
Eifersüchtig wachte Antonie darüber, dass Finchen ihr nicht den Rang ablief. Erst als diese sich bereit erklärte, einige von Antonies ungeliebten Arbeiten zu übernehmen, ließ die Spannung ein wenig nach. Es war Lina, die Finchen dazu geraten hatte.
Seitdem hatte das Mädchen jeden Abend den Laden ausgefegt, die Fingerspuren von den Auslagefenstern und Ladentischen gewischt und nach und nach auch die Ladenregale Fach für Fach abgestaubt.
Finchen hatte sich angewöhnt, den kleinen Oskar mit hinunterzunehmen, wenn sie ihre Arbeit tat. Im großen Wäschekorb aus Weidenruten hatte er ein gemütliches Bettchen, doch um diese Zeit schlief er selten. Jeder im Haus steckte kurz seinen Kopf in den Laden, um den Kleinen zu streicheln oder zu kitzeln. Meist nuckelte er an seinem Lutschbeutelchen.
Draußen im Flur hörte Lina, die in der Küche Tee zubereitete, Antonie laut schimpfen, weil Finchen das letzte frische Wasser zum Abwischen der arg vernachlässigten Regale im Hinterzimmer genommen hatte. «Nun kann ich wieder für sie Wasser schleppen!», rief Antonie ärgerlich. Lina und Clara erlaubten Finchen nicht, das Haus zu verlassen.
Also machte Antonie sich auf den Weg, und da Lina die Haustür nicht zufallen hörte, hatte sie sie wohl wie immer angelehnt, denn der Weg zum Brunnen war nicht weit.
Lina ging mit der halbgefüllten Teekanne die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Oben angekommen, hörte sie plötzlich den kleinen Oskar schreien, doch die Schreie entfernten sich rasch, und die Haustür fiel plötzlich ins Schloss.
Im selben Moment schrie Finchen im Laden auf: «Oskar! Oskar ist weg!»
Lina stellte die Teekanne auf das Tischchen im Flur und kam, so schnell sie es vermochte, die Treppe hinunter. Finchens Schreie hatten auch Clara und Wilhelm alarmiert. «Jemand muss ihn mitgenommen haben», sagte Lina, und Wilhelm rannte sofort los. In der Tür stieß er mit Antonie zusammen, und das Wasser ergoss sich über seine Hose und ihren Rock.
«Hast du draußen jemanden mit Oskar gesehen?», fragte Lina sie.
Antonie sah sie nur groß an und schüttelte den Kopf.
«Dann ist er Richtung Dammstraße verschwunden», sagte Lina. «Los, Wilhelm, lauf!»
Clara, die das weinende Finchen in den Arm genommen hatte, griff nach ihrem Mantel. «Ich werde zur Polizei laufen. Antonie, zieh dir etwas Trockenes an.»
«Sie hat die Haustür offen gelassen», schluchzte Finchen.
Antonie sah schuldbewusst auf den Boden. «Ich konnte doch nicht wissen …»
«Geh schon und zieh dich um, Antonie. Es genügt, wenn Wilhelm sich eine Erkältung holt», sagte Lina knapp.
Wenig später kamen Commissar Borghoff, Sergeant Ebel und der Polizeidiener Schröder mit Clara zurück, und auch Wilhelm fand sich wieder ein. Er hatte den oder die Entführer nicht mehr einholen können, doch an der Einmündung zur Dammstraße den leeren Korb gefunden.
Lina sah Borghoff an, und beide wussten, dass sie hier vor den anderen nicht offen reden konnten.
Borghoff ließ sich von Finchen zeigen, wo der Korb mit dem Kind gestanden hatte. Alle waren überrascht, als er an der Tür, die vom Laden in den Flur führte, einen Stofffetzen fand – keiner von Claras Stoffen, sondern ein Stück braunen Kattuns von einem schon leicht abgewetzten Rocksaum. Der Entführer musste eine Frau gewesen sein, die mit ihrem Rock an der Kante des Ladentischs hängen geblieben war.
«Ebel, Sie werden die Bewohner der Harmoniestraße und auch der Dammstraße befragen. Fragen Sie nach einer Frau in einem braunen Kleid oder Rock mit einem kleinen Kind. Es ist noch nicht spät, vielleicht hat jemand etwas gesehen. Und Schröder, Sie unterrichten den Nachtwächter und sagen an den Fähren Bescheid.» Er wandte sich an Finchen. «Wir werden Oskar finden, das verspreche ich dir.»
Ebel räusperte sich. «Wäre es nicht gut, die Bürgerwehr zu alarmieren? Wenn wir die Stadt mit drei Polizisten durchkämmen, werden wir nicht weit kommen.»
Borghoff nickte. «Das übernehme ich.»
Ebel und Schröder liefen los, Clara kümmerte sich um Finchen, und Wilhelm konnte endlich die nassen Hosen loswerden. Lina sah Borghoff an. «Der Kleine ist vermutlich im Schmuggelkeller oder im Haus der Wienholds.»
Borghoff
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