Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
und wann einfielen. Verstehen konnte Borghoff nichts, nur ab und an ein Wort, denn es waren so viele fremdartige Begriffe darin, dass es einer anderen Sprache glich.
Einer nach dem anderen hatten die Schiffer durch das Loch gespäht, und Borghoff konnte spüren, dass sie erbleichten.
Dehnen sah als Letzter hindurch. «Dammich!», sagte er gepresst, und gerade noch rechtzeitig bemerkte Borghoff, dass er im Begriff war, loszurennen und einzugreifen. Er hielt ihn fest und sah selbst, was geschah: Der Maskierte hielt ein Messer in der Hand und hatte begonnen, das Gebilde, diesen blutigen Sack, aufzuschlitzen. Sobald die Öffnung groß genug war, kam der Kopf eines Kindes zum Vorschein, Borghoff schätzte es auf etwa fünf. Es weinte und schrie jämmerlich, während der Maskierte den Schlitz noch erweiterte und es dann ganz herauszog.
Das Kind, ein Junge, war nackt und blutbeschmiert, und Borghoff begriff, dass das ekelhafte Ritual eine pervertierte Geburt darstellen sollte. Gemeinsam mit einem der anderen Männer nahm der Zeremonienmeister das Kind bei den Füßen und hob es hoch. Dann schlug der Maskierte dreimal kräftig auf das Hinterteil des Jungen, der daraufhin noch lauter schrie.
«Warum tun wir nichts?», fragte Dehnen hinter Borghoff aufgeregt. Es bestand keine Gefahr, dass man sie hätte hören können.
«Wenn wir sie jetzt stören, werden wir sie nie bekommen.» Borghoff fiel es selber schwer, untätig zu bleiben. Aber er war hier, um Oskar zu finden und zu verhindern, dass er getötet wurde. «Die Eltern dieses Jungen haben wahrscheinlich eingewilligt, dass dies mit ihrem Kind geschieht. Wir würden nichts erreichen.» Er schwieg, denn der Junge schien sich zu beruhigen. Es wurde in einen Zuber mit warmem Wasser gesetzt und gereinigt.
Borghoff erkannte plötzlich die Person, die dem Jungen vorsichtig das Blut abwusch: Es war Bertha Hartung, die ihm im Frauenheim in Duisburg begegnet war. Sie trug ein braunes Kleid, aber im Schein der Fackeln war nicht zu erkennen, ob ein Stück vom Rocksaum fehlte. Doch auch ohne diese letzte Gewissheit war sich Borghoff sicher, dass die Frau, die Oskar entführt hatte, die Hartung gewesen war.
Lina saß wieder mit den anderen beim Kaffee. Sie überlegte fieberhaft, wie sie es bewerkstelligen konnte, das Haus der Wienholds zu verlassen, ohne Reppenhagen oder einem seiner Diener in die Hände zu fallen.
Jutta, die viel über den Maler und seine Bilder sprach, forderte die Damen auf, das Familienporträt anzusehen, das er inzwischen vollendet hatte. Es hing in der Mitte der Galerie im ersten Stock.
Lina blieb etwas hinter den anderen zurück. Sie kannte das Bild bereits. Reppenhagen oder wer auch immer von den vielen, die in ihm waren, hatte die Familie so wirklichkeitsgetreu gemalt, dass man hätte meinen können, es blickten einen Personen aus einem Spiegel an.
Jutta saß in einem ihrer Nachmittagskleider auf einem Stuhl, ihr kostbarer Schmuck glänzte, als könne man ihn greifen. Zu ihrer Rechten stand Annette – und es war niemand anderes als Annette –, und Werner Wienhold stand hinter den beiden.
Die Damen ließen ihrer Bewunderung freien Lauf. Lina war inzwischen oben an der Treppe angekommen und zwängte sich an denen, die vor ihr standen, vorbei. Sie bemerkte, dass die Tür zum Damensalon gleich neben ihr immer noch einen Spalt offen stand, doch inzwischen hatten die Männer ihn wohl verlassen.
Während sie Juttas Erzählungen über die Entstehung des Bildes lauschte, merkte sie plötzlich, dass sich die Tür weiter öffnete. Sie machte einen Schritt zum Geländer hin, weil sie befürchtete, Reppenhagen könnte sie hineinziehen. Dann schalt sie sich eine Närrin, denn hier, inmitten der Gäste, würde ihr nichts passieren.
Die Tür öffnete sich weiter, und es war tatsächlich Reppenhagen, der allein im Damensalon zurückgeblieben war. Er hatte die Staffelei, auf der Amor und Psyche längst vollendet stand, so in den Raum gerückt, dass Lina es sehen musste. Sie mochte dieses Bild, mochte, wie Reppenhagens besseres Ich sie dort gemalt hatte, ihr Gesicht auf Juttas nacktem Körper.
Seine durchdringenden Augen starrten sie an, und sie konnte nicht verhindern, dass sie schauderte. Plötzlich blitzte etwas in seiner Hand auf, und Lina unterdrückte einen kleinen Schrei, als sie erkannte, dass es ein Messer war. Schon sah sie sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um, da rammte er das Messer in das Bild, mitten hinein in ihren Kopf, und zog es
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