Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
alles aufschreiben, ich regele das dann mit Georg.» Sie küsste Mina auf die Wange und nahm die Nachthemden für die Jungen mit in den dritten Stock in die Dachkammer.
Am frühen Abend waren auch Emil und Josef so müde, dass sie die Augen kaum noch offen halten konnten. Sie begrüßten kurz ihren Onkel Georg, der aus dem Kontor gekommen war, und dann brachte Lina sie in ihre Dachkammer.
«Es ist ein Dienstbotenzimmer, und leider gibt es nur ein Bett für euch beide. Aber der Tischler bringt in den nächsten Tagen zwei neue.»
Lina hatte nicht den Eindruck, dass die Jungen unzufrieden mit der frischgekalkten Kammer waren. «Weil eure Mutter so müde ist, bringe ich euch heute zu Bett.» Sie deutete auf die Nachthemden, und die beiden zogen sich rasch aus, wuschen sich auf Linas Geheiß Gesicht und Hände und legten sich dann in die frischbezogenen Kissen.
«Sprecht ihr ein Nachtgebet?», fragte Lina.
Emil schüttelte den Kopf. «Wir glauben nicht daran. Vater wollte das nicht.»
«Nun, das finde ich nicht gut. Aber ich nehme es hin», sagte Lina. Sie beugte sich über die Jungen und gab jedem einen Kuss auf die Wange. «Schlaft gut, ihr beiden.»
Sie war schon mit der Kerze an der Tür, als Josef zaghaft fragte: «Können wir vielleicht doch ein Gebet sprechen?»
Lina runzelte die Stirn. «Warum möchtest du das denn, Josef?»
«Weil … weil ich dann vielleicht nicht schlecht träume.»
Lina kam zurück und stellte die Kerze auf das kleine Nachtbänkchen. «Wovor hast du Angst, was fürchtest du zu träumen?», fragte sie und strich dem Kleinen die Haare aus der Stirn.
«Die Frau. Die Frau heute Mittag. Die mit dem toten Kind.»
«Aber das war kein Kind, sie trug nur ein Bündel …»
«Da war ein Kind», sagte Emil mit fester Stimme. «Ich habe es auch gesehen. Ein Gesicht in dem Bündel. Es war tot.»
Lina sah ihn erstaunt an. «Warum hast du denn nichts gesagt?»
Er seufzte und setzte sich nochmal auf. «Weil Mutter es doch wieder als Josefs Einbildung hingestellt hätte. In dem Viertel, wo wir zuletzt gewohnt haben, gab es viele sehr arme Leute. Da haben wir oft Schlimmes gesehen. Tote auf der Straße, auch Kinder. Aber Mutter sagte immer, die schlafen nur, macht euch keine Gedanken. Sie waren tot, Tante Lina, doch Mutter hat das nicht gesehen.»
Lina fuhr sich mit der Hand über die Augen und schüttelte den Kopf. «Sie wollte euch beschützen, Emil. Kein Kind sollte so etwas sehen.» Sie sah in Josefs immer noch verängstigte Augen. «Setz dich auch noch einmal auf, Josef. Ich werde jetzt ein Gebet sprechen.»
Lina brauchte sich nicht lange zu besinnen, auch wenn Aaltje sie nicht für fromm genug hielt, ihren Katechismus kannte sie: «Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diesen Tag gnädig behütet hast; und bitte dich, du wollest mir vergeben alle meine Sünden, wo ich unrecht getan habe, und mich diese Nacht gnädig behüten. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände; dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen.»
Die Jungen legten sich wieder hin. Lina stopfte die Bettdecke fest. «Hier in diesem Haus seid ihr ganz sicher. Hier gibt es keine Armut und keinen Hunger. Und auch wenn ihr heute Mittag ein totes Kind bei Kätt gesehen habt, es ist nicht üblich, dass Kinder hier in Ruhrort auf den Straßen sterben.»
Sie ging hinaus und schloss leise die Tür. Ein Kind war hier gestorben, das glaubte sie ihren Neffen. Es war erst kurz vor sieben, vielleicht konnte sie noch etwas unternehmen. Auf dem Weg nach unten lief ihr Finchen über den Weg. «Finchen, hol deinen Mantel. Du wirst mich begleiten.»
Das Rathaus war schon geschlossen, aber ein hilfreicher Nachbar verriet ihnen, dass der Commissar meistens bei Heckmann sein Abendessen einnahm. Jetzt, wo die Bürger Ruhrorts zum Feierabend ein Bier tranken, war viel los im Schankraum und mehr noch als sonst, denn viele Altstadtkneipen hatten wegen des Hochwassers geschlossen. Dazu kamen die Wallonen. Lina wollte Finchen nicht hineinschicken, und für sie selber gehörte es sich nicht. So wartete sie unschlüssig. Schließlich kam ein Gast heraus, es war der Schuster aus der Fabrikstraße, den Lina gut kannte, denn er war es, der seit Jahren ihre Schuhe fertigte.
«Herr Schremper», sprach sie ihn an.
«Guten Abend, Fräulein Kaufmeister», sagte er erstaunt und lüftete seinen Hut.
«Können Sie mir bitte einen
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