Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
kräftiger samtener Alt wurde nur von Finchens klarem Sopran übertroffen. Alle blickten sich fröhlich an und freuten sich an dem Wohlklang.
Nun bekamen die Bediensteten ihre Geschenke und ihr Weihnachtsgeld, bevor sie für den Rest des Abends entlassen waren. Helene, deren Familie in der Altstadt lebte, wollte diese noch besuchen, und die Übrigen würden ein paar Stunden in der Küche beieinandersitzen.
Dann war endlich der Moment gekommen, auf den sich die Kinder die ganze Zeit über gefreut hatten. Und allen Erwachsenen, auch dem alten Kaufmeister trotz seines starren Gesichtes, war die heimliche Freude und Spannung anzumerken.
Einem nach dem anderen übergaben Georg, Aaltje und Lina ihre Geschenke. Vieles war eher Notwendiges, neue Anzüge oder Kleider, warme Schals und Handschuhe. Aber dann kamen die wirklichen Schätze zum Vorschein: ein Regiment Franzosen für Karl, damit er endlich die Schlacht bei Waterloo nachspielen konnte, eine französische Porzellanpuppe für Elisabeth und mehrere neue, von Lina persönlich geschneiderte Kleider für die alten Puppenkinder, ein kostbar mit Intarsien geschmücktes Schachbrett mit schön geschnitzten Figuren und auch Damesteinen für Emil, dessen altes Schachspiel Mina in Brüssel hatte verkaufen müssen, und ein erstes preußisches Regiment Zinnsoldaten für Josef, der sich allerdings mehr für das Ausschnitttheater interessierte, das Lina ihm geschenkt hatte. Emil, Karl und Josef freuten sich zudem über Linas Buchgeschenke, lehrreiche Bücher mit vielen Bildern und Erklärungen darin. Friederike und Emma, mit dreizehn und vierzehn Jahren schon eher junge Damen, wurden überrascht mit ihren ersten Ballkleidern und der Aussicht, ihre Eltern Silvester zu der Gesellschaft bei Baron von Sannberg begleiten zu dürfen.
Aber alle Freude der Kinder wurde noch übertroffen von der Minas, als sie das Schmuckstück von ihren Schwestern bekam. Völlig überwältigt war sie schließlich, als sie die große Schachtel öffnete, von der jeder gedacht hatte, sie sei für eines der Kinder gedacht. Es war das Ballkleid, das Lina für Mina geschneidert hatte.
Mina ließ es sich nicht nehmen, es gleich anzuprobieren. Als sie, das Kettchen mit dem Anhänger um den Hals, in dem weitausgeschnittenen Kleid wieder den Raum betrat, konnte Lina die Tränen kaum zurückhalten. Die alte, unbeschwerte Mina schien zurückgekehrt zu sein, eine strahlende Schönheit, die Königin jedes Festes.
Guste versuchte, Lina zu überreden, ihr eigenes neues Kleid auch anzuziehen und den anderen zu zeigen, aber sie weigerte sich standhaft. «Das ist sowieso reine Verschwendung an mir», sagte sie.
Georg und Bertram öffneten gerade den Wein. Die Familie saß fröhlich beieinander, die Kinder hockten auf dem Boden und spielten, Emil hatte in Eberhard einen Schachpartner gefunden. Selbst der alte Kaufmeister hatte Freude an diesem harmonischen Abend. Nur Lina saß abseits und war in sich gekehrt. Wochenlang hatte sie diesen Abend vorbereitet, und nun spürte sie nichts als Müdigkeit und das Verlangen, allein zu sein.
Irgendwann hatte sie das Gefühl, in dem warmen Raum zu ersticken. Sie ging hinaus und hinauf in den ersten Stock in ihr Zimmer. Dort lag das gerade fertig gewordene grüne Ballkleid über ihrem Sessel.
Lina öffnete das Fenster und atmete tief durch. Es war eine kalte, sternenklare Nacht. Zunächst verwunderte sie es, dass draußen noch Menschen unterwegs waren, doch dann fiel es ihr ein: die Katholiken gingen nun zur Christmette. Es waren ein paar reichere Bürger darunter, die Lina auch kannte, aber die meisten waren ärmlich gekleidete, zugewanderte Arbeiter und natürlich die Phoenix-Wallonen.
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Mina ins Zimmer gekommen war. «Was ist los, Schwester? Warum bist du weggelaufen?»
Lina drehte sich zu ihr um.
«Du hast nicht einmal deine Geschenke geöffnet», fuhr Mina fort. «Im Trubel mit den Kindern haben wir dich einfach vergessen.» Sie trat zu Lina. «Guste hat mich geschickt, dich mitzubringen, damit wir das nachholen können.»
«Ach, Mina …» Lina fuhr sich über das Gesicht. «Ich bin nicht traurig, weil ihr mich vergessen habt. Ich hatte nur so viel zu tun in den letzten Wochen und nun …»
Minas Blick fiel auf das Kleid. «Ist dies das Kleid, das Guste meinte?»
Lina nickte. «Ich weiß nicht, warum, aber ich wollte unbedingt diese grüne Seide haben.»
«Du weißt nicht, warum? Weil diese Farbe dir besser steht als jede
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