Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Lina in ihrem kleinen, bescheidenen Reich. Das Schlafzimmer war mit Waschkommode, Schrank und Bett sowie dem Toilettenstuhl, auf den Lina nicht hatte verzichten wollen, so eng, dass sie sich kaum darin ankleiden konnte. Es roch nach frischer Farbe, und morgen würde sie Wilhelm bitten, noch zwei Haken in die Tür zu drehen, um Kleider schnell und ordentlich aufhängen zu können. Die Hüte hatte sie in ihren Schachteln gelassen und oben auf den Schrank gestellt. Mit der kleinen Holzfußbank konnte sie sie gerade erreichen.
Das Wohnzimmer war zwar vollgestopft mit Möbeln, wirkte aber sehr gemütlich. Direkt neben den zierlichen eisernen Ofen hatte sie den Sessel ihres Vaters gestellt, aus dem einen der beiden Fenster fiel das Licht darauf, sodass sie hier lange lesen konnte. Unter dem zweiten Fenster stand das Tischchen mit ihrer Nähmaschine.
Es war ein angenehm warmer Tag gewesen, doch nun, nachdem sie alles eingeräumt und mit Claras Erlaubnis zwei der sechs Körbe in den Keller geräumt hatte, wurde es kühl. Bei Kaufmeisters wurde abends an solchen Tagen der Kamin im Salon angezündet, wo man saß, bis es Zeit wurde, zu Bett zu gehen. Neben dem Ofen waren zwar Holzscheite aufgeschichtet, aber Clara hatte unmissverständlich erklärt, dass dies das restliche Holz des Lehrers war und Lina ihr Brennholz ebenso wie Lampenöl oder Kerzen selber kaufen müsse. So holte sich Lina einen Schal und eine Decke und machte es sich auf dem Sofa bequem. Auf dem Tisch lag die neueste Gartenlaube . Lina seufzte. Dies würde sicher für lange Zeit die letzte sein, die sie lesen könnte.
Als es dunkel wurde, ging sie zu Bett. Es war ein anstrengender Tag gewesen, viele Male war sie die Treppe im Hause Kaufmeister und die ungleich steilere hier hinauf- und hinabgestiegen, mehrmals war sie zwischen der Carlstraße und der Harmoniestraße hin- und hergelaufen.
Aber fast noch anstrengender war der Abschied von Schwester und Hauspersonal gewesen. Sie hinterließ Wochenpläne und Anweisungen für vier Wochen.
Finchen, gerade genesen von einer Krankheit, die ihr über Wochen Übelkeit und Erbrechen beschert hatte und die sie nun recht hohlwangig erscheinen ließ, hatte wie alle anderen nichts geahnt und brach in Tränen aus. Helene hatte mit versteinertem Gesicht zugesehen, wie die Möbel und Körbe auf einen Wagen geladen wurden. Heinrich hatte ihre Hand ganz fest gedrückt, und auch Lotte schien den Tränen nah.
Die Kinder konnten sich gar nicht erklären, was da passierte, Josef fiel der Tante weinend um den Hals, spätestens da musste auch Lina schlucken. «Ihr könnt mich ja besuchen», tröstete sie ihn und musste sich räuspern.
«Das werden wir, wenn Georg es erlaubt», sagte Mina.
Lina hatte nie so weit gedacht, dass Georg Mina oder den anderen Mitgliedern seines Haushaltes den Umgang mit ihr verbieten könnte. Aber unwahrscheinlich war das nicht. Als sie Mina umarmte, flüsterte sie: «Komm mich bald besuchen, bitte.»
Mina nickte und versprach zu kommen, solange Georg und Aaltje noch in Rotterdam waren.
Lina selbst wollte am nächsten Tag noch mit Guste und Bertram sprechen. Jetzt, da sie in ihrem Bett lag und ihre Füße unter den Kissen langsam wieder warm wurden, dachte sie zum ersten Mal daran, was sie wohl mit sich anfangen würde, allein in ihren zwei Zimmern. Hier war kein Haushalt zu führen, keine Kinder zu beaufsichtigen, ja selbst das Nähen würde weniger werden, wenn sie nicht mehr die Familie einkleidete. Bücher kaufen konnte sie nicht, auch die Leihmiete war zu hoch, das bedeutete: keine Gartenlaube , vielleicht mal ein heimlicher Kladderadatsch aus dem Hause ihres Schwagers. Und der Baron war bald für längere Zeit auf seinem Gut.
Für einen Moment überkam sie heftige Sehnsucht nach ihrem Zuhause, ihren täglichen Pflichten. Sie hatte ein neues Leben gewollt, aber wenn sie ehrlich zu sich war, dann hatte sie nie eine klare Vorstellung davon gehabt, wie es aussehen könnte. Wenn sie als Lehrerin hätte arbeiten dürfen, ja, dann wären ihre Tage ausgefüllt gewesen. Aber nun? Sie hatte noch knappe siebzig Thaler übrig, für Brennholz, etwas Tee und was immer anfiel, und sie musste in einem Jahr wieder hundertzehn Thaler Miete zahlen.
Schluss damit , sagte die vernünftige Lina in ihr. Heute Abend wirst du keine Lösung finden. Du hast ein Jahr Zeit, bis es ernst wird, also schlaf jetzt . Aber das war leichter gesagt als getan.
Linas Stimmung änderte sich auch am nächsten Morgen nicht. Sie war
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